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Der Titel des folgenden kleinen Artikels ist ein Satz, den ich viele Male zu verschiedenen Gelegenheiten gehört habe. Wenn ich ihn gefragt werde, antworte ich stets mit einer Provokation. „Wie meinen Sie das - bis zum Sarg?“ Gemeint ist natürlich, wie lange ich bis zur Rente noch arbeiten muss. Mich erschreckt diese Frage. Sie suggeriert nämlich, dass Menschen die meiste Zeit ihres Lebens damit verbringen, einer Arbeit nachzugehen, die sie als Belastung empfinden. Sie sind darüber müde geworden, einige sogar krank. Sie sehnen sich nach Ruhe, was nur verständlich ist. Nun leben wir in einer Leistungsgesellschaft, in der es vornehmlich darum geht, durch eine gute Ausbildung und Fleiß die materiellen Bedürfnisse zu befriedigen. Erst die ermöglichen es, die Lebensträume von Familie mit Kindern mit all den Attributen, die eine gutbürgerliche Familie ausmachen (Eigenheim, Autos, Unterhaltungselektronik, Hobbies, Reisen u.v.m.) wahr werden zu lassen. Die Beschäftigung mit den Weisen des Geistes (was den Menschen im Innersten zusammenhält) und der Seele (das Göttliche im Menschen) wird auf deren Zweck/Nutzen reduziert und macht sie damit zum Alibigeber für die materiellen Welt. Dabei wäre es für die innere Balance so wichtig, nach den schönen Dingen zu streben (das sind die ohne Zweck) und achtsam mit sich umzugehen. Bei der unumgänglichen Beschäftigung mit den kleinen und großen Problemen dieser Welt gilt es, nicht zu verurteilen, sondern nach Ursachen zu fragen, Zusammenhänge auszumachen und ganz wichtig, mit dem anderen in einen friedlichen Diskurs zu gehen. Dazu ist Bildung notwendig, die man nicht in der Schule bekommt. Sich darum zu bemühen ist Sache jedes einzelnen. Wer es während seines Arbeitslebens versäumt, droht am Ende in ein Loch zu fallen. Aus einem Leben ohne Zweck wird dann ein Leben ohne Sinn. Damit führt die Frage, wie lange musst Du noch, zu einer Lüge, die vielleicht schlimmste Alten-Lüge. Sie kündigt zwar das Ende der Leidenszeit im Arbeitsprozess an, führt aber nicht zwangsläufig zu dem erhofften rosigen Lebensabend. Wie beschrieb der brasilianische Dichter Paolo Coelho diese Lebenssituation so treffend? - Man ist zufrieden mit den Kaffee-Sonntagnachmittagen im Kreis der Familie und hat den guten Kampf um sich selbst aufgegeben.
Hier sehe ich die große Aufgabe gerade von lebensälteren Menschen, die es geschafft haben, ihr Leben in die Balance zu bekommen. Denen, die im Materiellen hängen geblieben sind, helfen, durch Bildungsangebote ihre eigene zu finden. Das ist nicht einfach, oder wie Max Weber es einmal im Politischen formuliert hat, es ist wie Löcher in dicke Bretter bohren. Das große Hindernis ist die zweite Alten-Lüge, die weitverbreitete Annahme, dass ein „altes“ Hirn nicht mehr lernfähig sei.
Dieses immer wieder vorgebrachte Argument wird von den frustrierten Betroffenen wie ein Schutzschild vor sich hergetragen und ist von der Neuro-Biologie schon längst widerlegt. Der Hirnforscher Prof. Gerald Huether sagt dazu: Ein Hirn ist immer nur so intelligent, wie man es benutzt. Die Plastizität eines Hirns und damit seine Lernfähigkeit altern nicht. Wer es nur noch für die Routine des Berufsalltags benutzt, dem fällt es irgendwann sehr schwer, seinen Geist für etwas Neues zu aktivieren. Die Ursachen liegen im Biologischen. Um im Hirn wieder Licht zu machen, um es bildlich auszudrücken, muss die Vernetzungsdichte von Milliarden von Hirnzellen erhöht werden. Damit die aktiv in Kontakt treten können, braucht es sogenannte Neuro-Transmitter. Das sind Botenstoffe, die die chemo-elektrische Leitfähigkeit zwischen einzelnen Hirnzellen aktiviert. Diese Botenstoffe kann das Hirn aber nur produzieren, wenn es in einen positiven Erregungszustand versetzt wird. Das geschieht immer dann, wenn der Mensch neugierig ist, Freude empfindet und Lust auf das Neue hat. Kinder im Vorschulalter sind in diesem Zustand, wenn sie spielen. Die Lernkurve in dieser Zeit geht steil nach oben. Sie flacht ab, wenn sie in die Schule kommen, wenn der „Ernst des Lebens“ beginnt. Irgendwann im Berufsleben fällt sie sogar ab. Im Hirn gehen die Lichter aus. Diesen Prozess umzukehren ist die schwierigste Aufgabe für alle diejenigen, die sich zur Aufgabe gemacht haben, Lebens- und Berufs-Erschöpften zur Seite zu stehen. Es gilt nämlich, ihnen Lust auf das Neue zu machen. Die Verweigerung wird häufig mit der dritten Alten-Lüge begründet. Lust ist ein Privileg der jungen.
Lust versetzt den Menschen in einen Zustand, in dem alle Sinne in positiver Erregung schwingen. Das gilt nicht nur für den sexuellen Bereich, sondern für alles, was uns als erstrebenswert erscheint. Die Folge dieser Lust ist Neugier. Wir wollen mehr davon. Bei der Beschäftigung mit dem Objekt der Lust, allein oder mit anderen zusammen, entsteht neues Wissen und Verstehen. Das ist ein schönes Erlebnis und macht Freude. Unser Hirn lernt, ohne das es muss. Das gilt gleichermaßen für das Kindergartenkind, für den Schüler, für Menschen im Berufsleben genauso wie für den Rentner. Letztere tun sich dabei am schwersten. Hier sehe ich eine wichtige Aufgabe für Menschen, die ihre Lebensbalance gefunden haben. Es gibt sie. Viele sind nicht mehr im Arbeitsprozess und engagieren sich in den verschiedensten Bereichen. Sie wollen gerade älteren Menschen helfen, ihren Weg in der Zeit danach positiv zu gestalten. Ich möchte mich einreihen und verstehe mich als Mentor. Damit möchte ich deutlich machen, dass der Einstieg in Bildung, wie ich sie verstehe, immer als ein ganzheitlicher Prozess zu verstehen ist. Man kann die Welt um sich herum nicht von der eigenen trennen.
Sollten Ihnen Passagen in diesem Artikel zu theoretisch sein, lade ich sie ein, in meinem Blog herumzuschmökern. Darin finden sie kleine Artikel mit Beispielen aus dem Bereich des Zwischenmenschlichen, aus dem Schulleben, aus der Geschichte und nicht zuletzt aus der Tagespolitik. Wenn Sie Lust auf mehr haben, komme ich auch gern zu Ihnen, um zu diskutieren und voneinander zu lernen. Zum Schluss möchte ich die Negativspannung des Titels dieses Artikels auflösen. Anstatt zu fragen, wie lange musst Du noch, sollten wir die demutsvolle Frage stellen: Wie lange darf ich noch.
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