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Der Titel des Artikels „What the captain really means“ ist der Veröffentlichung eines Interviews entnommen, das ein Journalist 1967 während des Vietnamkrieges mit einem US-Piloten einer F4 Phantom im Aufenthaltsraum der Staffel geführt hat. Die Antworten, die der Pilot gab, waren direkt und hielten mit nichts hinter dem Berg. Sein sprachlicher Ausdruck war allerdings so hemdsärmelig und deftig, dass man ihm einen Presseoffizier beigeben hatte, der dem Journalisten die Antworten „übersetzte“. Man wollte sicher gehen, dass die offizielle Diktion über den Krieg „richtig“ verstanden wird. Mir kam der Titel des Interviews in den Sinn, als ich die Rede des Bundeskanzlers las, die er anlässlich seiner Entscheidung, der Ukraine Leopard-Panzer zur Verfügung zu stellen, vor dem Bundestag gehalten hatte. Seine Schlussworte lauteten:
Und deshalb möchte ich diesen Bürgerinnen und Bürgern hier an dieser Stelle sagen: Vertrauen Sie mir, vertrauen Sie der Bundesregierung. Wir werden, weil wir international abgestimmt handeln, weiter sicherstellen, dass diese Unterstützung möglich ist, ohne dass die Risiken für unser Land darüber in eine falsche Richtung wachsen. Das ist der Grund, warum wir das so tun, und so werden wir es auch weiter machen.
Nun kennen wir alle die offizielle Diktion unserer Regierung zum Ukraine-Krieg. Es gilt, die ukrainische Regierung in die Lage zu versetzen, die russische Aggression abzuwehren. Dafür benötigt die ukrainische Armee moderne Waffensysteme, Ausbildung an denselben, Beratung für den taktischen Einsatz und nicht zuletzt logistische Unterstützung (i.e. Munition und Wartungs- und Instandsetzungspersonal). Alles das will die Bundesregierung zur Verfügung stellen, für den Leopard-Panzer und all die Systeme (wie zum Beispiel Kampfflugzeuge), die Herr Selenskyj noch gerne hätte und Deutschland bereit wäre zu liefern. Solche Lieferungen müssten jedoch „international abgestimmt“ sein. Die Risiken dürften für unser Land nicht „in eine falsche Richtung wachsen“. Wenn ich solche Ausdrucksweisen lese, frage ich mich, sollten wir uns alle fragen, „what the Captain* means“.
„International abgestimmt“ kann doch nichts anderes heißen, als dass mit den NATO-Partnern, vornehmlich mit den USA, abgestimmt wurde, wer welches Waffensystem wann den Ukrainern zur Verfügung stellt. Die Eskalation des Krieges, die man mit der Panzerlieferung unterstellt, ist schon viel früher entschieden worden. Die Ukrainer militärisch aktiv zu unterstützen ist nicht Sache von Einzelentscheidungen, sondern folgt einem geplanten politischen Kalkül. „Der Captain“ weiß, dass die Ukrainer auch mit Leopard-Panzern die Russen nicht besiegen können. Man kann davon ausgehen, dass er gute Berater hat. Der moderne konventionelle Krieg wird nicht in Duell-Situationen entschieden, sondern durch materielle und psychische Abnutzung. „Der Captain“ weiß auch, dass Herr Putin entschlossen und fähig ist, seine politischen Ziele in der Ukraine zu erreichen und daher eine russische Eskalation mit Atomwaffen unwahrscheinlich ist. Er wird auf die westlichen Nadelstiche der Waffenlieferungen mit eigenen Nadelstichen antworten, wie die gezielten Luftschläge gegen das Elektrizitätsnetz von Großstädten beweisen. Die Eskalation mit Nadelstichen trifft die Ukrainer, niemanden sonst. Sie ist für Deutschland risikolos. Das meint „der Captain“, wenn er sagt, dass die Risiken unseres Handelns nicht „in eine falsche Richtung wachsen“. Da fragt man sich natürlich, was ist „die richtige Richtung“. Die Antwort: Alles Handeln, was Herrn Putin schadet und Anlass bietet, Russland zu isolieren.
Es ist kein Geheimnis, dass die USA seit einigen Jahren Russland und China als globale Konkurrenten ansehen. Das Pentagon hat inzwischen beide Mächte zu Bedrohungen erklärt. „Der Captain“ weiß, dass seine Ukraine-Politik dem globalen geostrategischen Ziel der Amerikaner dient, Russland als Rivalen auszuschalten. Damit verschafft er sich ideale Voraussetzungen, um in der Welt deutsche und europäische Wirtschaftsinteressen voranzubringen. Hinter diesem Denken steht die Überzeugung, dass man auf der Welt mit den USA viel erreichen kann, gegen sie aber gar nichts. In diesem Sinn bestätigt die Reise des Kanzlers nach Südamerika zu diesem Zeitpunkt die zweite Aussage „des Captains“ im Umkehrschluss. Die Risiken seines Handelns wachsen in die „richtige“ Richtung.
Südamerika galt von je her als „Hinterhof“ der USA. Getreu der Monroe Doktrin „Amerika den Amerikanern“ standen die Länder des Kontinents seit Beginn ihrer Unabhängigkeit von den europäischen Kolonialmächten wirtschaftlich unter nordamerikanischer Dominanz. Das ändert sich gerade. Einmal durch die wirtschaftliche Aktivitäten Chinas, die mit großen Investitionen und Wirtschaftshilfen an Einfluss gewinnen und zum anderen durch den Willen der regionalen Regierungen, aus der Einseitigkeit des amerikanischen Einflusses herauszukommen. Die Bestrebungen nahmen mit der Gründung von MERCOSUR (Mercado Común del Sur = Gemeinsamer Markt des Südens) 1991 Gestalt an. Die EU, auf der Suche nach neuen Märkten, blieb nicht untätig und schloss 1995 mit der Organisation einen Assoziationsvertrag. Das Ziel war die Gründung einer europäisch-südamerikanischen Freihandelszone. Sie kam bisher nicht zustande. Zollfreier Handel zwischen den Staaten Europas und Südamerika scheiterte bisher an den Partialinteressen der Beteiligten. Das Schlagwort „Kühe gegen Autos“ veranschaulicht eines der großen Hindernisse einer Einigung. Die Europäer taten sich schwer, Lebensmittelstandards zu senken, um mehr Autos zu verkaufen.
Unbenommen der vertraglichen Bedingungen einer Freihandelszone spielt der Einfluss der USA auf die Wirtschaften der südamerikanischen Länder nach wie vor eine große Rolle. Washington könnte europäische Wirtschaftsaktivitäten in Südamerika nachhaltig stören und sogar verhindern, wie man am Beispiel von Nord Stream 2 gesehen hat. Die Schweizer Firma, die mit der Rohrverlegung auf dem Ostseegrund beauftragt war, wurde von Washington aufgefordert, die Arbeit einzustellen, ansonsten man ihre Geschäftsverbindungen in die USA kappen wurde. Die Schweizer haben die Arbeit eingestellt. Ein solches Risiko hat „der Captain“ mit seiner Ukraine-Politik ausgeschaltet. Er hat damit sichergestellt, dass Deutschland und Europa in die „richtige“ Richtung wachsen. Die USA werden seine Bestrebungen in Südamerika unterstützen. Ich möchte mit dem Appell schließen, den „der Captain“ am Ende seiner Rede an das deutsche Volk gerichtet hat.
Vertrauen Sie mir, vertrauen Sie der Bundesregierung.
Was die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands angeht, mag man Vertrauen haben. In Bezug auf den geschichtlichen Imperativ, den zwei Weltkriege uns Deutschen aufgegeben haben, fehlt es mir. Es ist ein Imperativ, nach denen die wahren großen Captains wie Charles de Gaulle, Willi Brandt und Jitzchak Rabin gehandelt haben. Er lautet: Frieden und Versöhnung.
* Im Fall des Piloten-Interview bedeutet „Captain“ ein Dienstgrad in der US-Luftwaffe äquivalent zum deutschen Hauptmann. In der amerikanischen Geschichtsschreibung bezeichnet man große Führungspersonen auch als „Great Captains“.