Warum fragt nach dem Grund, weshalb nach dem Zweck. Im Alltag benutzen wir diese Frage-Worte unbewusst für ein und dasselbe. Dabei wäre eine Unterscheidung sehr wichtig, insbesondere dann, wenn es um die Lösung von Konflikten geht. Das gilt für die Auseinandersetzung mit der aufdringlichen Schwiegermutter, mit dem renitenten Schüler, mit einem schwierigen Mitarbeiter genauso wie mit einem aggressiven Diktator. Im Privaten ist man inzwischen bereit, dem Rat eines Psychologen zu folgen. Die Familientherapie kennt den Konflikttreiber, nämlich die Verweigerung, nach Ursachen zu fragen, und die Antworten in den Mittelpunkt einer Konfliktlösung zu stellen. Im Folgenden soll an 4 Beispielen gezeigt werden, dass in den Antworten auf die Warum-Frage fast immer die Lösung eines Konfliktes verborgen liegt.
1. Beispiel
Eine „böse“ Schwiegermutter, die sich ungefragt in alles einmischt und alles besser weiß, ist „böse“, weil sie nach dem Zweck ihrer Einmischung beurteilt wird. Sie weiß alles besser, und Sie will dominieren. Fragt man nach dem Grund, käme man auf andere Antworten. Eine alleinstehende Frau, die ohne ihren Mann, der inzwischen verstorben ist, einsam ist und Nähe sucht, die nicht mehr im Berufsleben steht und sich nützlich machen will, die ihre Kinder liebt und helfen möchte - wenn Sie die Ursachenfrage stellen würden, kämen Sie auf Antworten des Verstehens. Ihr Verhalten gegenüber der Schwiegermutter würde sich ändern. Ein offenes Wort der Empathie wäre möglich. Das wiederum könnte ihr Verhalten ändern.
2. Beispiel
Ein renitenter Schüler stört den Unterricht und verstößt gegen Schulregeln. Gestresste Lehrer reagieren mit Disziplinierungsmaßnahmen, obwohl man um die Ursachen für das Verhalten solcher Schüler weiß. Da sie meistens außerhalb der Schule im sozialen Umfeld der Kinder zu finden sind, auf das die Schule keinen Einfluss hat, bemüht man Sozialpädagogen und Schulpsychologen, die das Verhalten dieser Schüler wieder „in die Spur“ bringen soll. Würde man die Warum-Frage in den Mittelpunkt stellen, könnte man erkennen, dass der Störer draußen einem Machtgefüge ausgesetzt ist, dem er nicht entkommen kann. Dazu gehören Erziehungsberechtigte, anderen dominante Jugendliche, unverständige Erwachsene und nicht zuletzt die Polizei. Wenn er dann jeden Morgen in die Schule kommt, ist er erneut einem Machtgefüge ausgesetzt. Er erlebt wieder seine Ohnmacht. Würde man ihm mit Verständnis und Liebe begegnen, wäre die Chance gegeben, dass er irgendwann einmal gern zur Schule kommt. Sein Verhalten würde sich ändern.
3. Beispiel
Die Arbeitswelt, in der der Mensch die meiste Zeit seines Lebens verbringt, verlangt das Funktionieren. Das sichert ein Einkommen, womit man für sich und die Seinen die materielle Existenz und, ganz wichtig, Wohlstand sichern kann. Nun ist dieses Funktionieren nicht auf die Einzelleistung beschränkt, sondern kann nur der Firma oder der Organisation dienen, wenn man zusammenarbeitet. Auseinandersetzungen, die einem Team in der Sache geführt werden, haben nicht selten auch eine zwischenmenschliche Ursache. Das kann man trotz professionaler Personalführung bei Auswahl und Ausbildung nicht verhindern. Sie kennen vielleicht solche Mitarbeiter, die immer dagegen sind, wenn ein Vorschlag von Ihnen kommt. Ein Aufeinanderzugehen wird so gut wie unmöglich, weil immer sachlich argumentiert wird. Hier gilt die Maxime: Wenn sie ein Problem lösen wollen, müssen sie sich vom Problem lösen. Stellen Sie die Warum-Frage. Warum ist ihr Kollege so? – Das können Sie herausfinden, wenn Sie ihn als Menschen sehen und ihm mit Liebe und Verstehen begegnen. Vielleicht erzählt er ihnen, was ihn bedrückt, vielleicht auch nicht. Es reicht schon, wenn Sie ihm das Gefühl geben, dass er verstanden wird. Damit steht die Tür zu einer Verhaltensänderung weit offen.
4. Beispiel
Das letzte Beispiel liegt mir besonders am Herzen. Es ist der Konflikt zwischen Staaten, bei dem die Lösung durch Krieg herbeigeführt werden soll. Die meisten Kriege sind ausgebrochen, weil die Konfliktgegner auf dem Weg zum Krieg die Warum-Frage verweigert haben. Zu dieser Erkenntnis kommen inzwischen die Kriegsgeschichtsforschung. Warum sind die Deutschen den Nazis hinterhergelaufen und haben sie an die Macht gebracht, was die Katastrophe den zweiten Weltkrieges und den Völkermord möglich gemacht hat? – Winston Churchill hat 1945 die Antwort gegeben. Er hat den zweiten Weltkrieg als den „unnötigen Krieg“ bezeichnet. Hätten die Gewinner des ersten Weltkriegs bei der Abfassung des Versailler Friedensvertrages 1919 mehr Empathie für den Verlierer gezeigt, Hitler wäre der Welt höchstwahrscheinlich erspart geblieben. In seinen Memoiren geht Churchill konkret auf die Ursachen ein, die den Aufstieg der Nazis möglich gemacht hat. Wenn sie die staatsmännische Weisheit des britischen Premiers auf den Ukrainekonflikt übertragen, erleben wir gerade wieder diese historische Dummheit. Die Verweigerung, die Warum-Frage ernst zu nehmen.
Der Westen legitimiert diesen Krieg und unterstützt ihn, weil er sich von Zweck-Fragen leiten lässt. Herr Putin hat die Ukraine überfallen, um seinen Machtbereich auszudehnen. Er will der neue Zar eines Großrusslands werden. Die Eingliederung der Nachbarstaaten, die einst dazu gehörten, seien dazu eine historische Notwendigkeit. Würde man nach den Ursachen der Politik Putins fragen, käme man zu empathischen Antworten. Eine Friedenspolitik wäre möglich. Russland ist in seiner Geschichte zweimal aus dem Westen überfallen worden. Die Invasion durch Napoleon 1812 kostete ca. 500 000 Soldaten und ebenso viele Zivilisten das Leben. Im zweiten Weltkrieg, der für Russland mit dem Einmarsch deutscher Armeen 1941 begann, verloren 25 Millionen Russen ihr Leben. Jetzt bewegt die NATO unter amerikanischer Führung, die einstmals als Militärbündnis gegen Russland gegründet wurde, seine Basen bis an die russische Grenze heran. Herr Putin, der kraft Amtes für die Sicherheit seines Landes und seiner Bürger verantwortlich ist, konnte aus seinem Geschichtsverständnis heraus eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine nicht akzeptieren und sah sich gezwungen, militärisch zu handeln. Hätte man bei den Verhandlungen vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine Empathie gezeigt und die Ursache für die russische Verhandlungsposition, keine NATO-Mitgliedschaft für die Ukraine, berücksichtigt, es wäre mit ziemlicher Sicherheit nicht zum Krieg gekommen. Der könnte jeden Tag beendet werden, wenn alle Seiten die Warum-Frage stellen und ernst nehmen würden. Warum denkt und handelt der andere so? - Eine Antwort trifft meines Erachtens auf alle zu. Mangelnde Empathie. Wenn Sie jetzt wiederum die Warum-Frage stellen, also was ist die Ursache dafür, kommen sie vielleicht irgendwann in der Schule an. Aber es gibt Hoffnung. Schwiegermütter wissen das.