Von Kanarienvögeln und Kindern
„Das erste Wirkende ist das Sein des Erziehers, das Zweite, was er tut, das Dritte, was er redet.“ – Romano Guardini (1885-1968) römisch-katholischer Priester und Philosoph
Im 19. Jahrhundert war es unter den Bergleuten der Silberminen im Harz Usus, einen Kanarienvogel mit untertage zu nehmen, nicht, um sich bei der Arbeit an ihrem Gesang zu erfreuen, sondern als Lebensversicherung. In 800 Meter Tiefe war es heiß und die Atemluft sehr schlecht. Es kam immer wieder zur Bildung von giftigen Gasen wie das geruchlose Kohlenmonoxyd. Wenn eingeatmet konnte es sehr schnell zum Tode führen. Die Vögel reagierten auf das Gas. Zuerst fingen sie an, unruhig zu flattern und wurden dann apathisch, bevor sie ohnmächtig von der Stange fielen und starben. Für die Bergleute, die die Vögel immer wieder beobachteten, war das das Signal, sich in Sicherheit zu bringen. – Obwohl alle Beispiele hinken, wie es so schön heißt, sehe ich in der Geschichte eine Metapher, die uns alle betrifft.
Unsere Kinder sind unsere Kanarienvögel. Untertage eingesperrt sein steht für ohne Liebe sein. Das soll auf keinen Fall als Kritik an den vielen Eltern, Erziehern und Lehrern verstanden werden, die ihre Kinder lieben und nur das Beste für sie wollen. Es ist eine Kritik am System, deren Kinder wir alle sind. Profitdenken hat sie dort eingesperrt. Die schlechte Luft, die sie atmen müssen, besteht aus Konsumieren und Funktionieren. Bevor sie von der Stange fallen, geben sie Warnsignale. Sie fangen an zu stören. Eltern beginnen, unter ihren schwer erziehbaren Kindern zu leiden. Lehrer und Mitschüler sind ihnen trotz eines etablierten Katalogs von Strafmaßnahmen hilflos ausgeliefert. Die Störer kommen notorisch zu spät zum Unterricht oder manchmal gar nicht, verweigern jede Mitarbeit, provozieren durch unflätige und beleidigende Sprache und missachten jede Regel eines harmonischen Zusammenlebens. Zu Hilfe gerufenes Fachpersonal wie Sozialpädagogen und Schulpsychologen scheitert immer wieder, weil sie darauf aus sind, die Störer zu „reparieren“. Es gilt, bei ihnen ein Bewusstsein für ihr Stören zu erzeugen, um über Besinnung eine Verhaltensänderung zu bewirken. Dabei verkennt man, dass das Stören ein Hilferuf ist. Wenn man den nicht hört, kann es bei einigen in Gewalt umschlagen. Sie beginnen zu zerstören, zuerst Sachen dann auch den Nächsten und manches Mal sich selbst. Sie fallen von der Stange. Die fürchterlichsten Formen der Selbstzerstörung sind für mich Drogenkonsum und Amokläufe. Auch sie versucht man durch „Reparaturmassnahmen“ in den Griff zu bekommen. Drogenbekämpfung und schärfere Waffenkontrollgesetze sind wichtig, verkennen aber die wahre Ursache. Die vom System erzeugte Lieblosigkeit in unserer Gesellschaft. Die Kinder, die von der Stange fallen, sind Warnsignale, die wir endlich ernst nehmen müssen.
Der Schlüssel zur „Rettung“ liegt für mich im Lernen. Um das näher zu erläutern, möchte ich Ihnen „die Menschenrechte des Lernens“ vorstellen. Der chilenische Professor für Neuro-Biologie und Philosoph Umberto Maturana hat sie einmal für seine Studenten aufgestellt. Hier sind sie.
Niemand wird Probleme damit haben, diese Rechte einem Studenten an einer Universität zuzubilligen. Ein Lehrer an einer Schule hätte sicherlich große Bedenken bei dem Recht Nummer drei. Auch dem könnte ich entgegnen, dass, wenn er eine liebevolle Beziehung zu seinen Schülern hätte und er seinen Unterricht spannend gestalten würde, er sich keine Sorgen machen müsste, dass einer seiner Schüler gehen wollte. Das ist meine Erfahrung. Wobei ich zugestehen muss, dass es immer „Ausreisser“ gibt. Die gibt es immer. Jeder braucht seine Zeit zum Lernen. Das gilt nicht nur für die Lerninhalte der Fächer, sondern vor Allem dafür, dass Liebe ohne Bedingung ist.
Genau diese Erfahrung fehlt einigen Kindern bei ihrem Heranwachsen. Wir Erwachsene könnten sie ihnen geben, wenn wir Maturanas Menschenrechte des Lernens auch für uns übernehmen und dazu stehen würden. Wir machen Fehler in der Erziehung, und wir sind jederzeit bereit, unsere Meinung ihnen zu Liebe zu ändern, und wir bleiben, auch wenn wir manchmal gehen möchten. Empathie und emotionale Intelligenz können Kinder (Menschen) nur lernen, wenn sie sie erfahren. Wie so etwas in der Praxis aussieht, darüber erzählte einmal ein amerikanischer Drogenberater, der an der internationalen Schule, die meine Kinder besuchten, einen Vortrag hielt.
Während seiner Highschool-Zeit kam er nach Wochenend-Partys oft betrunken und bekifft nach Hause. Sein Vater erwartete ihn. Es gab kein Wort des Vorwurfs und keine Predigten. Sein Vater umarmte ihn, machte ihm etwas zu Essen und brachte ihn ins Bett. Der Drogenberater war sich sicher. Ohne seinen Vater wäre er nicht das geworden, was er heute ist. Am Anfang seines lebenslangen Lernens stand dessen bedingungslose Liebe.