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Ungehorsam – Tradition des Gewissens
Demokratie braucht Whistleblower, Querdenker und Putinversteher
“Ich habe Sie zum Stabsoffizier gemacht, damit Sie wissen, wann Sie nicht gehorchen sollen.“ - Friedrich II., der Große (1712 - 1786), preußischer König
Ungehorsam war beim Militär von je her das schlimmste Vergehen, dessen sich ein Soldat schuldig machen konnte. Im Krieg stand darauf meistens die Todesstrafe. Immer wieder gab es aber auch weise Heeresführer wie Friedrich der Große, die eigenständiges Denken eingefordert haben. Sie waren sich der Subjektivität, ja der Beschränktheit, ihrer eigenen Wahrnehmungen und Anordnungen wohl bewusst. Wenn in der Dynamik einer Schlacht die bewährte Strategie nicht aufging, weil der Gegner sich nicht so verhielt, wie erwartet, war der König darauf angewiesen, dass seine Offiziere situationsbezogen agierten. Das konnte im äußersten Fall bedeuten, dem König den Gehorsam zu verweigern. Damit wurden sie zum Störer einer von Gott gegebenen Hierarchie. Friedrich hat mit diesem Muster seiner Zeit gebrochen und die Störer-Kultur in seinem Offizierskorps gepflegt. Diese scheinbare Aufgabe von Autorität hat sicherlich dazu beigetragen, dass die preußische Armee während des 7jährigen Krieges (1756-1763) gegen die Übermacht der russischen, österreichischen und französischen Armee am Ende als Sieger hervorging.
Das Zitat des preußischen Königs kam mir in den Sinn, als ich von dem Haus internen Corona-Papier las, das ein Beamter des Bundesministeriums des Inneren (BMI) auf eigene Faust veröffentlicht hatte. Es beinhaltete Handlungsoptionen für die Regierung, die in der Bevölkerung Angst vor dem Corona-Virus schüren sollte. Mit der eigenmächtigen Veröffentlichung hatte er gegen die Gehorsamspflicht eines Beamten verstoßen und wurde damit zum Störer der politischen Macht der Bundesregierung. Anstatt Führungsstärke zu zeigen und Störung als Chance zu begreifen, wurde der Störer bestraft. Die Kanzlerin hätte den Beamten für seine Zivilcourage in aller Öffentlichkeit loben sollen. Sie hätte ihre demokratische Gesinnung zeigen können, indem sie menschenfeindliche Inhalte des BMI-Papiers angesprochen und aufs Schärfte verurteilt hätte. Der Minister hätte entlassen werden müssen. Nichts dergleichen ist geschehen. Anstatt die Menschen in diesem Land durch die Krise zu führen, wurde ein schlechtes Schauspiel aufgeführt. Der Titel hätte von Berthold Brecht sein können. Zuerst kommt die Staatsräson, dann die Moral. Ein solches Führungsverhalten scheint in Demokratien inzwischen Kultur geworden zu sein.
In den USA werden sogenannte „Whistleblower“ kriminalisiert. Ihr „Verbrechen“: Machtmissbrauch, Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen der eigenen Regierung öffentlich machen. Bürger, die bei uns von ihrem Recht der Meinungsfreiheit Gebrauch machen und gegen die Regierungspolitik protestieren, riskieren, als verwirrte oder gefährliche Störer hingestellt zu werden. Namensgebungen, die eigentlich positiv belegt sind, werden nicht zuletzt mit Hilfe der Medien zu Schimpfworten umfunktioniert. Kritiker der Regierungspolitik während der Corona-Krise wurde als „Querdenker“ diffamiert, die entweder in die Psychiatrie oder als Staatsfeinde vom Verfassungsschutz observiert gehörten. Wer im Ukraine-Konflikt öffentlich die Kriegspolitik des Westens kritisiert und Verhandlungen fordert, in denen auch russische Befindlichkeiten berücksichtigt werden müssen, wird als Putinversteher beschimpft, der Angriffskriege verharmlost. Hätte es doch nur genug Putinversteher auf westlicher Seite gegeben, als man vor Beginn des Krieges um eine Lösung des Konflikts verhandelt hat. Sich in die Gedanken und Gefühle von Herrn Putin hineinzuversetzen hätte diesen Krieg verhindern können.
In der Psychologie nennt man diese Fähigkeit Empathie. Ohne sie wären Friedenspolitik, Entspannung und Versöhnung nicht möglich. Genau das bräuchten jetzt die Menschen in der Ukraine, in Russland, in Europa, nicht in irgendeiner Zukunft gewonnene Kriege oder die Bestrafung von Schuldigen. Wie die Geschichte zeigt, kommen Völker und Regierungen erst zu dieser Einsicht, wenn lange genug geblutet, gelitten und zerstört wurde. Störer könnten das verhindern. Indem sie scheinbar die Mächtigen stören, stören sie tatsächlich den Zeitgeist, und der kann in einer Demokratie genauso zerstörerisch sein, wie in einer Diktatur die Zensur.
Die folgende kleine Geschichte soll Einsicht dafür wecken, Störer nicht als gefährliche Zer-Störer zu begreifen, sondern quasi als vierte Kraft in der Demokratie, die nur einer Instanz verantwortlich ist, dem eigenen Gewissen oder anders ausgedrückt, Gott. Die Geschichte stammt aus dem Roman „Die Brüder Karamasow“ von Fjodor Dostojewski und war das Schlusswort des Vortrages Zukunft der Wahrnehmung: Wahrnehmung der Zukunft* des Kybernetikers und Philosophen Heinz von Foerster. Hier ist sie in verkürzter Form.
An einem Nachmittag spaziert der Großinquisitor gut gelaunt durch Sevilla. Er hat am Morgen ganze Arbeit geleistet. Über 100 Häretiker waren auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Er wird auf eine Menschenansammlung aufmerksam. Als er näherkommt, sieht er, wie ein Fremder einem blinden Mädchen die Hand auflegt und sie daraufhin wiedersehen kann. Der Großinquisitor weiß sofort, wer der Fremde ist und lässt ihn verhaften und ins Gefängnis werfen. In der Nacht besucht er ihn in seiner Zelle und sagt zu ihm: „Ich weiß, wer Du bist, Unruhestifter. Eintausendfünfhundert Jahre haben wir gebraucht, um den Menschen den Unsinn auszutreiben, den Du ihnen beigebracht hast. Du weißt ganz genau, dass Menschen selbstständig keine Entscheidungen treffen können. Du weißt genau, dass Menschen nicht frei sein können. WIR müssen ihre Entscheidungen treffen. WIR sagen ihnen, wer sie sein sollen. Morgen werde ich Dich auf dem Scheiterhaufen verbrennen.“ – Darauf steht der Fremde auf, umarmt den Großinquisitor und küsst ihn. Dieser geht hinaus. Als er die Zelle verlässt, schließt er diese aber nicht zu, sodass der Fremde in die Nacht entkommen kann.
Über die Bedeutung dieses Gleichnisses ist viel geschrieben worden. Folgende erklärt für mich einleuchtend, warum wir Störer brauchen. Der Inhalt der Botschaft Christi ist Liebe. Die Gemeinschaft von Menschen, die sich dieser Botschaft verschrieben hatten, nannte man Christen. Anfänglich war ihre Religion im römischen Reich nicht gelitten. Christen wurden verfolgt und vielfach hingerichtet. Bis dann unter dem Kaiser Konstantin I (285-337 n.Chr.) das Christentum zur römischen Staatsreligion erklärt wurde. Damit begann der Anfang vom Ende des universellen Gedankens, dass alle Menschen durch Liebe miteinander und mit Gott verbunden sind. Die Bewegung des Christentums bekam eine nach weltlichem Vorbild strukturierte hierarchische Organisation – die heilige Kirche -, deren Würdenträger den christlichen Glauben sehr bald zum Dogma machten. Jeder, den die Mächtigen der Kirche als gefährlich für ihr Dogma ansahen, wurde verfolgt, gefoltert und verbrannt. Oft reichte eine einfache Denunzierung. Die Macht des christlichen Glaubens basierte nun nicht mehr auf Liebe, sondern auf Angst.
Genau mit der wurde der Groß-Inquisitor konfrontiert, als er nach grausamer Arbeit selbstgefällig durch seine Stadt gewandert ist und Jesus beim Heilen eines kranken Mädchens begegnet. Ihm wird bewusst, dass er selbst der Häretiker ist und nicht die, die er im Namen des Glaubens foltert und auf den Scheiterhaufen bringt. Wer an Jesus Christus glaubt, glaubt an die Liebe. Der verurteilt nicht und richtet, sondern der verzeiht und tut Gutes. Formal folgt der Inquisitor seiner Pflicht und lässt den Häretiker einsperren. Er hat aber Angst, seinen Gesinnungswandel offen einzugestehen und den Störer der kirchlichen Ordnung freizulassen. Er besucht Jesus nachts in der Zelle, um ihm zum Schein das Todesurteil zu verkünden. Dann lässt er ihn entkommen. Heinz von Foerster beendete seine Rede mit den Worten:
Lassen Sie uns an diese Geschichte denken, wenn wir solchen Unruhestiftern begegnen, und lassen Sie uns die Türen für sie offenhalten.
Wie wäre es, wenn man im öffentlichen Raum über Plakate, Lautsprecher-Durchsagen und Internet-Banner den folgenden Satz bekannt machen würde?
- „Querdenker und Putinversteher sind bei uns willkommen!“ –