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“Born on a train” heißt ein Lied der Gruppe The Magnetic Fields. Hier ist ein wunderbares Cover, den die Gruppe Arcade Fire in einer Morgensendung eines US-amerikanischen Radiosenders gespielt hat. Im Refrain des Liedes heißt es:
I have to go when the whistle blows the whistle knows my name, Baby, I was borne on a train.
Mich haben Lied und Text an einen Nachruf erinnert, den ein Freund anlässlich des Todes seines Vaters geschrieben hatte. Hier ist er.
Pflicht, Leistung, Opfertum Sind Tugenden unserer Kultur Die einen weit bringen können Das Materielle ist die Belohnung Im Außen gute Bürger Im Inneren nie endende Suche Nach Liebe und Wärme Nach Geborgenheit und Zuhause So manches Mal aufgeschlagen In der Schule Im Job In der Partnerschaft Immer wieder aufgestanden Auf den Weg gemacht Zugepackt und aufgebaut Heim, Familie und Lebensglück Die Tugenden vergehen nicht Sehnsucht essen Seele auf Es ist nie zu spät Nehmen wir sie in den Arm Und versichern ihnen Sie haben ihr Bestes gegeben Und dass wir sie lieben Auch ohne ihre Tugenden.
Wenn wir das Leben als eine Zugreise verstehen, dann trifft es auf alle Menschen zu. „Born on a Train“. Manche kommen nicht an. Der Nachruf erzählt davon. Hier ist die Geschichte dahinter.
Die Eltern meines Freundes wohnten fast ein halbes Jahrhundert in derselben Stadt in ihrer Mietswohnung. Sie waren beide über 80 als die Mutter durch Krankheit pflegebedürftig wurde. Zu der stressvollen häuslichen Situation kam hinzu, dass der Vater erste Anzeichen einer Demenz zeigte. Mein Freund beschloss schweren Herzens, seine Eltern in ein Pflegeheim an seinem Wohnort umzuziehen. Die Mutter willigte ein. Sein Vater wehrte sich anfänglich vehement dagegen, ergab sich dann aber schließlich in das Unausweichliche. Durch die fortschreitende Demenz gestaltete sich das Zusammenleben in ihrem neuen „Zuhause“ derart problematisch, dass man sie trennen musste. Der Vater wurde auf die Demenz-Etage verlegt, auf der er nach wenigen Monaten verstarb.
Während der letzten Wochen zeigte er ein merkwürdiges Verhalten. Wenn mein Freund bei seinen täglichen Besuchen zu ihm ins Zimmer kam, wartete sein Vater auf ihn, reisefertig mit gepackter Reisetasche. So manches Mal hat das Pflegepersonal ihn draußen vor dem Heim aufgefunden. Bis wenige Tage vor seinem Tod versuchte er immer wieder, sich auf den Weg zu machen. Wenn man ihn fragte, wohin er wollte, sagte er, dass noch nicht alles gut ist. Er müsse noch etwas erledigen. Das letzte Mal schaffte er es nur noch bis zur Tür seines Zimmers. Da er seit Wochen die Nahrungsaufnahme verweigert hatte, war er nunmehr zu schwach, um sich noch einmal auf den Weg zu machen. Das Pflegepersonal hat meinem Freund erklärt, dass es ein typisches Verhalten von Demenzkranken sei, jeden Morgen ihre Tasche zu packen. Man hat sie durch das Herausnehmen aus ihrer vertrauten Umgebung entwurzelt. Sie wollen wieder nach Hause. Sie haben Heimweh.
Fast jeder von uns wird im Leben schon einmal Heimweh gehabt haben, als Kind während eines längeren Krankenhausaufenthaltes als Student nach Auszug aus dem Elternhaus in eine fremde Stadt oder als Soldat während einer längeren Kommandierung weit weg von zuhause. Eigentlich wissen wir, dass Orte nur Symbole sind. Was uns sehnen lässt, dorthin zurückkehren zu wollen, sind die Menschen dort, die uns geben, wonach wir uns sehnen. Liebe und Geborgenheit.
Menschen, die am Ende ihres Lebens angekommen sind und von ihrem vertrauten Zuhause weg in ein Heim umziehen (umgezogen werden), haben natürlich auch Heimweh. Wenn sie noch wach im Kopf sind, können sie darüber reden. Die Mutter meines Freundes war bis zu ihrem Tod bei voller geistiger Gesundheit. Sie hat nicht über Heimweh geredet, sondern hat dankbar über viele schöne, aber auch traurige Momente in ihrem Leben reflektiert. Ihr Lebenszug war angekommen. Sie hatte kein Heimweh mehr.
Einige, die noch nicht angekommen sind, bekommen Angst, wie der Vater meines Freundes. Die kann so unerträglich werden, dass das Hirn abschaltet. Die Wissenschaft beobachtet dieses Phänomen an der Veränderung der Hirnzellen und benennt eine Krankheit – Demenz. In diesem Zustand „hört“ der Mensch nur noch die Pfeife seines Lebenszuges, der immer noch nicht angekommen ist. Diese letzte Angst, nicht mehr anzukommen, hatte den Vater meines Freundes verzweifelt und rastlos gemacht. Das ist natürlich keine wissenschaftliche Erklärung, sondern allein meine. Sie ist eine Menschen würdige. Sie stellt das in den Mittelpunkt, was uns auf unserer Zugreise ankommen lässt.
Mein Freund und die herzensguten Frauen vom Pflegepersonal waren sich damals sicher, dass das Leiden des Vaters durch die Krankheit Demenz ausgelöst wurde. Und dann gaben sie ihm das, was er vielleicht in seinem Leben nicht genug bekommen hatte. Liebe und Geborgenheit. Sie haben ihn ernst genommen, ihm zugehört, ihm versichert, dass er alles richtig gemacht hat und ihn immer wieder in den Arm genommen.