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„Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt. - Humberto Maturana, Neuro-Biologe und Philosoph; *14. September 1928 in Santiago de Chile
Sie kennen sicherlich das Spiel Stille-Post. Wir haben es früher auf Kindergeburtstagen gespielt. In abgewandelter Form wird es heute zu pädagogischen Zwecken bei der Aus- und Weiterbildung von Jugendlichen und Erwachsenen benutzt. 4-6 Leute einer Klasse werden vor die Tür geschickt. Dann projiziert man ein Bild an die Wand. Die Anwesenden bekommen eine Minute Zeit, um sich die Details einzuprägen. Dann wird einer als Initiator des Spieles bestimmt. Das Bild wird weggeschaltet und der erste von den draußen wartenden Teilnehmern hereingebeten. Der Initiator erzählt ihm, was er auf dem Bild gesehen hat. Wenn Letzterer verstanden hat - Rückfragen sind nicht erlaubt - wird der zweite vor der Tür wartende hereingerufen und der erste erklärt diesem, was er verstanden hat, das auf dem Bild zu sehen ist. Nachdem der letzte Teilnehmer vor der Tür seine Version vom kommunizierten Bild zum Besten gegeben hat, wird es wiederum an die Wand projiziert. Wie man sich vorstellen kann, wird die Erheiterung recht groß sein. Dann wird Verblüffung einsetzen. Wie ist es möglich, dass ein grundsätzlich für alle gleich wahrnehmbares Bild über ein paar wenige Stationen weitererzählt so verfälscht werden kann?! –
Ein Verfälscher ist sicherlich die Mehrdeutigkeit von Sprache, die allein dadurch entsteht, dass Sender und Empfänger einer Nachricht immer wieder nicht auf demselben Kanal kommunizieren („Ich weiß erst, was ich gesagt habe, wenn ich Deine Antwort gehört habe“; Paul Watzlawick). Das kleine Spiel Stille-Post zeigt, wie trotz derselben Sprache in kurzer Zeit die Bedeutung von etwas Eindeutigem wie ein Bild allein durch Weitererzählen mehrdeutig wird. Man kann sich leicht vorstellen, dass der Verfälschungseffekt noch viel größer sein muss, wenn Informationen aus einem entfernten Kriegsgebiet wie der Ukraine über verschiedene Sprachen kommuniziert werden (ukrainisch, russisch, polnisch, rumänisch, englisch und/oder französisch). – Sprache ist aber nur eine Ausprägung der eigentlichen Ursache für das Verfälschen. Es ist die Subjektivität aller Wahrnehmungen. Sie wird heute weder von den Naturwissenschaften noch von den Geisteswissenschaften in Frage gestellt. Die griechischen Philosophen haben schon vor über 2000 Jahren darüber nachgedacht. Neuro-Biologen begründen es inzwischen wissenschaftlich, wie das Zitat unter dem Bild belegt.
Maturanas Erkenntnis hat der österreichisch-amerikanische Kybernetiker und Philosoph Heinz von Foerster in einem Interview mit dem Wissenschaftsjournalisten Bernhard Poerksen (siehe „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“) durch eine kleine Schmunzel-Geschichte verdeutlicht. Von Foerster erzählte von seinem Besuch an einer Akademie für Journalisten in den USA. Er war als Gastredner eingeladen worden und begann seinen Vortrag damit, dass er das Motto der Akademie thematisierte. Es lautete: „Tell it, as it is!“ (“Sag, wie es ist!“) Der Satz ist einleuchtend, denn nach landläufiger Meinung sollte ein guter Journalist immer objektiv berichten und sich an die Wahrheit halten. Heinz von Foerster verblüffte sein Publikum, in dem er das Motto umformulierte. Es müsste eigentlich heißen:“It is, as you tell it!“ (Es ist, wie Du sagst!“) Diese scheinbar kleine Wortspielerei verbirgt eine ungeheuerliche Feststellung, nämlich die, dass es keine objektive Wahrheit geben kann, die man berichten könnte. Ein Journalist, der über „die Realitäten“ eines Konflikts informieren will, mag sich noch so sehr um Wahrheit bemühen, er kann immer nur von seiner eigenen berichten. Sie entsteht, wie bei dem Stille-Post Mitspieler, durch Hören-Sagen, das durch eigene Erfahrungen und Vorurteile ein persönliches Gewand bekommt. Man nimmt das wahr und gibt das weiter, was einem vor dem Hintergrund eigener Ansichten und Positionen als Realität erscheint. Was diese infrage stellt, wird ignoriert oder abgelehnt. Dahinter steckt meistens keine böse Absicht, sondern ist der Arbeitsweise unseres Hirns geschuldet. Es entdeckt keine Realität, sondern es konstruiert sie. Das hat nichts mit Fake-News zu tun. Die sind absichtsvolle Falschnachrichten, die gestreut werden, um anderen zu schaden bzw. sich selbst Vorteile zu verschaffen. Was Neuro-Biologen, Psychologen und Philosophen konstruieren nennen, ist selten ein bewusster Akt, sondern ein Prozess des zentralen Nervensystems.
Zu jedem Bruchteil einer Sekunde werden aus Sinneswahrnehmungen, Gefühlen, Erfahrungen und Unbewusstem „Realitäten“ erschaffen. Alles, was gesagt wird, wird immer von einem Beobachter gesagt oder wie Heinz von Foerster es ausgedrückt hat: Objektivität ist der Wahn zu glauben, man könne etwas beobachten ohne einen Beobachter. Wenn wir von Realität oder Wahrheit sprechen, meinen wir eigentlich immer nur eine angenommene Übereinstimmung von Realitäts-Konstruktionen (Wenn es in der Tagesschau kommt, muss es wahr sein). - Warum ist diese Erkenntnis wichtig? – Sie ist Voraussetzung, um Konflikte friedlich zu lösen. In der Familientherapie hat man das schon seit Jahren erkannt. Der Fokus der Therapeuten liegt nicht mehr auf vermeintlichen Störern, sondern auf scheinbar unvereinbare Realitätskonstruktionen oder simpel ausgedrückt, auf gestörten Beziehungen. In der Politik scheint eine solche Denkweise noch immer nicht Eingang gefunden zu haben, wie viele unnötige Kriege beweisen. Wer das Stille-Post Spiel in internationalen Beziehungen durchschaut, wird Besitzansprüche auf die „Wahrheit“ aufgeben. Nur wer dazu bereit ist, wird der hehren Forderung zur Friedenspflicht gerecht. Sie von anderen zu fordern ist Heuchelei.
Gegen die Friedenspflicht haben sicherlich Herr Putin aber auch seine Interessengegner in den USA, der Ukraine, in Brüssel und in Berlin grob fahrlässig verstoßen. Sie waren sich alle darüber im Klaren, dass das Ignorieren der Realitätskonstruktionen des Anderen Krieg bedeuten könnte und haben sich einer Verhandlungslösung verweigert. Der Krieg dauert nun schon über ein halbes Jahr, und ein Ende ist nicht abzusehen. Tausende Ukrainer und Russen haben bisher ihr Leben gelassen. Millionen von Menschen leiden weltweit unter dem Wirtschaftskrieg, den der Westen Russland erklärt hat. Es ist davon auszugehen, dass es keinen Sieger geben wird. Meinen Sie nicht, dass es Zeit ist, dass wir uns an unserer Friedenspflicht erinnern? - Den ersten Schritt dazu kann jeder machen.
Wir sollten aufhören, auf den Gegner mit dem Finger zeigen und ihn an seine Friedenspflicht erinnern. Wir sollten uns bemühen, die Realitätskonstruktionen des anderen zu verstehen (Empathie zeigen) und unsere eigenen immer wieder in Frage stellen. Sich selbst als Teil des Problems zu begreifen, fällt unserem Hirn sehr schwer. Es nimmt ja wahr und nicht falsch. Dabei ist diese Denkweise nicht unbekannt. Sie kommt aus der Systemtheorie und nennt sich Kybernetik der 2. Ordnung. Man könnte sie als ethische Regel des Stille-Post Spiels verstehen. Sie gilt nicht nur für Politiker und Redakteure, sondern für jeden von uns.
Einfach ausgedrückt: Glauben Sie nicht alles, was man Ihnen in den Medien erzählt und präsentiert. Vor Allem horchen Sie auf, wenn jemand in Diskussionen behauptet: Das ist so. Gewöhnen Sie sich an zu sagen: Ich sehe das so.