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Während meiner Engagements als Vertretungslehrer habe ich jede Gelegenheit genutzt, Kinder zum selbstständigen Denken anzuhalten. Bilder, die Metaphern enthalten, sind ein geeignetes Mittel dafür. So hatte ich einmal zum Ende des Schuljahres – die Zeugniskonferenzen waren gelaufen – das Bild in der Überschrift auf das Smartboard projiziert.
Ich fragte die Klasse, worin sie den Unterschied zwischen einer Schule vor hundert Jahren und heute sehen würden. Die in Sachen Informationstechnik abgeklärten Jungs hatten sofort eine passende Antwort. Damals hätten die Lehrer einen Zeigestock benutzt, um auf Einzelheiten des Tafelanschriebs hinzuweisen. Heute seien die Klassenräume mit Smartboard, PC und Beamer ausgestattet. Zum Zeigen würden Lehrer einen Laserpointer benutzen. Man schaute mich erwartungsvoll an und warteten auf meine Bestätigung, dass sie das „Richtige“ getroffen hatten. Ich ließ sie mit ihrer Antwort „in der Luft hängen“ und sagte gar nichts. Alle starrten weiter auf das Bild und suchten nach einem weiteren Unterschied. Und dann platzte es aus einem Mädchen heraus: „Sie dürfen uns nicht mehr schlagen!“ – Ich klärte die Kinder auf, dass seit 1973 die Körperstrafe an deutschen Schulen verboten ist. Am 06. Juli 2000 hat der deutsche Bundestag sogar ein Gesetz erlassen, das jegliche Art von Gewalt in der Kindererziehung verbietet. Im § 1631 Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) heißt es:
„(2) Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigenden Maßnahmen sind unzulässig.“
Ich zeigte den Schülern die Textpassage und fragte sie nach ihrer Meinung. Nein, eine Körperstrafe gäbe es nicht, da waren sich alle einig. Sie waren sich aber auch einig, dass sie sich immer wieder unter Druck gesetzt fühlen. Für Hausaufgaben nicht gemacht, nicht gelernt oder abschreiben wird man in der Regel mit einer schlechten Note bestraft. Zuspätkommen und Verstöße gegen die Disziplin während des Unterrichts haben häufig einen Eintrag ins Klassenbuch und/oder Aussperrung aus dem Unterricht zur Folge. Erklärungen der Schüler zum Grund des Regelverstoßes werden zumeist als billige Ausreden oder im schlimmsten Fall als renitente Widerworte abgetan und ziehen nicht selten Androhungen weiterer Strafmaßnahmen nach sich. Einige Schüler erzählten sogar, dass sie runtergemacht wurden. „Wenn Du so weitermachst, wirst Du später einmal bei McDonald Hamburger drehen“ und ähnliche Sätze hätten sie mehr als einmal zu hören bekommen. - Ein solcher Sarkasmus ist natürlich völlig ungeeignet, um Kindern etwas zu kommunizieren. Sie verstehen ihn nämlich nicht. Wie dem auch sei, ich möchte Lehrern grundsätzlich nicht unterstellen, dass sie Schüler vorsätzlich Schüler runtermachen. Solche Worte sind nicht nur unpädagogisch, sondern sie verletzen und verstoßen gegen die Menschenwürde. Wenn sie doch einmal fallen, geschieht es affektiv und sind häufig der Konflikt-Situation geschuldet. Lehrer sind auch nur Menschen. Die geschilderten Strafmaßnahmen sind eindeutig nicht körperlich. Trotzdem halte ich sie für Gewaltanwendung. Für Kinder ist Schule ein Machtapparat, dem sie per Gesetz ausgeliefert sind (Schulpflicht!), und der sie dafür bestraft, wenn sie sich dagegen wehren (meistens unbewusst), ein bloßer Eimer zu sein, der gefüllt werden soll. Für die Gewalt, die sie dabei erfahren, hat der norwegische Friedensforscher Johan Galtung den Ausdruck „strukturelle Gewalt“ geprägt. Hier ist eine Definition:
Strukturelle Gewalt umfasst gesellschaftliche, wirtschaftliche oder kulturelle Strukturen und Bedingungen, die Individuen oder Personengruppen daran hindern, ihre Potenziale und Möglichkeiten voll zu entfalten.
Viele mögen jetzt protestieren. Wie kann Schulpflicht Gewaltanwendung sein, wenn sie doch dem Wohl des Kindes dient? - Ich meine, dass sie schon von der Semantik her Gewalt gegen Kinder impliziert. Pflicht bedeutet nämlich „Du musst, und wenn Du nicht willst, dann wirst Du gezwungen“. - Wenn uns wirklich das Wohl der Kinder am Herzen liegt, sollte dann nicht für sie das Recht auf Schule gelten und für die Erwachsenen die Pflicht, Schule so zu gestalten, dass Kinder ihr Recht mit Begeisterung wahrnehmen und zur Schule gehen wollen? – Meine Forderung ist keine Tagträumerei. Sie ergibt sich aus den Erkenntnissen der Neuro-Biologie über das Hirn und den Folgerungen, die von den Sozialwissenschaften daraus gezogen wurden.
Nachhaltiges Lernen setzt Freude, Neugier und Wollen voraus. Wenn wir in Kindern ein Feuer entfachen wollen, dann müssen wir selbst brennen, hat sinngemäß der heilige Augustinus geschrieben. Wer nur damit beschäftigt ist, leere Eimer zu füllen, um sie dann zu wiegen und je nach Füllmenge zu sortieren und auszusondern, der brennt nicht. Ein Lehrer, der brennt, bemüht sich darum, mit seinen Schülern gemeinsam Aufgabenstellungen zu lösen. Dabei geht es nicht so sehr darum, Wissen zu generieren und anzuwenden, sondern um die Ausprägung von Persönlichkeitskompetenzen, auch Meta-Kompetenzen genannt. Auch diese Erkenntnis ist schon längst wissenschaftlich belegt. Studenten der Pädagogik lernen die Meta-Kompetenzen im Studium. Leider werden sie im Schulalltag kaum beachtet. Wie schon vor hundert Jahren sehen Lehrer ihre wichtigste Aufgabe darin, Eimer zu füllen und zu messen. Lehrer sein, ein Management-Job. Dabei geht es in der Schule um Menschenführung. Sie allein kann Meta-Kompetenzen vermitteln, und zwar dadurch, dass der Lehrer sie ist! Wie das geht, möchte ich Ihnen zum Schluss an den Definitionen der Meta-Kompetenzen deutliche machen.
Empathie
Die Fähigkeit, sich in Gedanken und Gefühle anderer hineinversetzen zu können.
Ein Lehrer ist empathisch, wenn er Erklärungen von Schülern nicht hinterfragt, sondern ihnen glaubt, warum sie einer Pflicht nicht nachgekommen sind. Er lobt sie für ihr Bemühen.
Emotionale Intelligenz
Gefühle und Gedanken anderer mit seinen in Einklang bringen können.
Ein Lehrer ist emotional intelligent, wenn er Störungen seines Unterrichts nicht den Schülern anlastet, sondern stattdessen sich selbst hinterfragt und überlegt, was er ändern könnte, damit die Schüler seinem Unterricht bereitwillig folgen. Er zeigt offen Dankbarkeit für die Störung.
Soziale Gewandtheit
Gefühle und Gedanken anderer Gruppenwirksam beeinflussen können
Ein Lehrer ist sozial gewandt, wenn er Interesse und Neugier seiner Schüler für ein Thema wecken kann und ihnen die Möglichkeit gibt, in der Gruppe gemeinsam formulierte Ziele zu erreichen. Er wertschätzt ihre Arbeit und belohnt die Zielerreichung.
Eigenmotivation
Zielgerichtetheit, Disziplin und Ausdauer (Frustrationstoleranz und Impulskontrolle) bei der Verfolgung eines Zieles/Lösung eines Problems.
Ein Lehrer ist eigenmotiviert, wenn er bereit und fähig ist, mit seinen Schülern deren Wege zu gehen, auch wenn sie im Moment nicht zielführend zu sein scheinen. Dabei verliert er nie sein gestecktes Ziel aus den Augen und ist jederzeit bereit, dieses anzupassen. Er lobt Einzelbeiträge sowie die Gruppenarbeit und belohnt die Ergebnisse.
Selbstwirksamkeit
Das Wissen um die eigenen Fähigkeiten, das Kennen der eigenen Kompetenzen und das Selbstvertrauen, diese situationsbezogen einzusetzen.
Ein Lehrer ist selbstwirksam, wenn er im Unterricht – geplant wie spontan - mit Bestimmtheit und viel Humor bei der Sache ist. Bei ihm darf gelacht und gesungen und getanzt werden. Er ist ehrlich mit seinen Schülern und anerkennt, dass er auch Fehler macht. Er gibt sie zu und korrigiert sie – in der Sache genauso wie im Zwischenmenschlichen. Er wird nicht müde, seine Schüler für alles das zu loben, wenn sie es zeigen.
Auch wenn vielleicht die Ausprägungen des Lehrerseins für die einzelnen Meta-Kompetenzen (Schrägschrift) Ungläubigkeit hervorrufen sollten, sie sind keine graue Theorie, sondern entsprechen im Wesen dem, was man gute Menschenführung nennt. Das ist meine Erfahrung, als Berufsoffizier, als Führungsberater und später als Lehrer an Gymnasien. Wenn Sie mehr darüber wissen wollen, laden Sie mich ein. Ich habe viel zu erzählen.