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Bei uns gilt in der Verteidigungspolitik das Primat der Politik. Witzbolde haben diesen Satz etwas umformuliert. In der Verteidigungspolitik regieren Primaten. Mir liegt es fern, diesen Satz in irgendeiner Weise auf Politiker zu beziehen. Auch wenn man mit der einen oder anderen Politik nicht einverstanden ist oder Politiker Fehler machen, rechtfertigt das nicht solche sprachlichen Verunglimpfungen. Dennoch sehe ich diesem Politikbereich ein Verhalten von Politikern, der mit dem von Primaten, hier den Gorillas, vergleichbar ist.
In der Sicherheits- und Verteidigungspolitik könnte man das Aggressionsgebaren von Konfliktgegnern mit dem von männlichen Gorillas vergleichen. Es ist stark ritualisiert und soll den Konkurrenten abschrecken bzw. zum Einlenken veranlassen. Wenn Droh-Gebärden nichts nutzen und es doch zum Kampf kommt, beteiligen sich in der Regel auch andere Männchen. Solche „Show-downs“ können tödlich enden. Auslöser für solche Konflikte sind fast immer Streit um Futter oder um Weibchen. Man könnte beides die „vitalen Interessen“ einer Gorilla-Gruppe nennen.
Genau diesen Begriff „vitale Interessen“ findet man auch in der „National Security Strategy (NSS)“ der USA wieder. Wir in Deutschland habe keine solche Strategie, aber wir haben, wie jeder Staat, natürlich vitale Sicherheitsinteressen. Dazu gehören u.a. Bewahrung von Demokratie und Unabhängigkeit sowie ungehinderter Zugang zu den Rohstoff-Regionen und sichere Handelswege. Um diese zu bewahren und vor Bedrohungen zu schützen, agiert eine Regierung in allen klassischen Handlungsfeldern der Politik, der Diplomatie, der Wirtschaft, der Kultur, der zwischenmenschlichen Beziehungen und nicht zuletzt der militärischen Gewaltanwendung. Da mag man sprachlich friedliebend daherkommen, Begriffe wie Verteidigung und Abschreckung sind letztendlich Drohungen der Gewaltanwendung, die auch ein Interessenkontrahent für sich gleichermaßen in Anspruch nehmen wird. Wenn das Drohungsritual funktioniert, wird der Konflikt friedlich ausgehen. Wenn nicht, gibt es Krieg. Bei den Gorillas endet er mit ein paar toten Tieren. Beim Menschen kann er zu der Verwüstung von Ländern mit millionenfachen Opfern führen und im schlimmsten Fall sogar den Untergang der Menschheit zur Folge haben.
Der Vergleich mit Gorillas hinkt natürlich. Gottseidank. Gorillas folgen einem Instinkt. Wir Menschen haben den Verstand und können reflektieren. Dazu möchte ich all jene einladen, die immer noch glauben, dass militärisches Drohgehabe (d.h. Rüsten und militärische Stärke zeigen) die eigenen vitale Interessen und die von anderen wahren und schützen können. Es ist unschwer erkennbar, dass ich auf den seit Jahren schwelenden Konflikt zwischen Russland und den USA bzw. der NATO anspiele, der jetzt mit dem Ukraine-Krieg in eine gefährliche Phase eingetreten ist. Der ist kein neuer Konflikt, sondern die Fortführung des Kalten Krieges, ohne gelernt zu haben.
Im Folgenden soll weder das Verhalten der Regierung Russlands schöngeredet, noch soll eine pazifistische Position vertreten werden. Mir geht es darum, diese Droh-Politik gegenüber Russland ad absurdum zu führen. Sie muss nämlich glaubhaft sein, und das ist sie nicht. Sie ist es deswegen nicht, weil Abschreckung immer auch beinhaltet, den Krieg führen zu wollen und zu können. Allein die vielen zivilen Opfer, die ein solcher Krieg kosten würde, verbieten eine Abschreckungspolitik schon aus ethischen Gründen. Auch aus der Sicht eines Militärs halte ich die Planung für einen eventual Fall für unseriös. Der Aufwand für einen Waffengang muss graue Theorie bleiben, wenn man das Chaos bedenkt, das dieser in Europa auslösen würde und im eigenen Untergang enden könnte. Zur Deutlichmachung ein paar Fakten.
Eine Panzer-Division (15 000 Soldaten) benötigt im Einsatz pro Tag ca. 4500 Tonnen Verbrauchsgüter (Treibstoff, Munition und Wasser). Die Bereitstellung, das heißt Heranschaffung und Lagerung in Depots sowie der Transport zu den Verbänden im Kampfeinsatz muss im 24/7 Takt sichergestellt sein. Die Transportmittel wären Güterzüge der Deutschen Bahn und LKW. Geht man von einem maximal Bruttogewicht eines Güterzuges von 1600 Tonnen aus (Quelle: Forschungs-Informations-System) und stellt in Rechnung, dass mehrere Divisionen im Einsatz sein werden, wird sehr schnell klar, dass schon ohne gezielte Luftangriffe des Gegners die Deutsche Bahn an ihre Grenzen kommt. Der Straßentransport per LKW würde sehr schnell durch Millionen von Privat-PKW behindert werden, in denen sich die Bevölkerung aus den Kriegsgebieten in Sicherheit bringen will. Das zu erwartende Verkehrschaos wäre weder vom Militär und schon gar nicht von der Polizei zu beherrschen. Hinzu kämen kollaterale Waffenwirkungen, die vor allen Dingen die Zivilbevölkerung treffen würde. Deren Opferzahlen würden in die Hunderttausende gehen, sollte eine Seite taktische Nuklearwaffen einsetzen, um eine drohende Niederlage abzuwenden oder den „entscheidenden“ Schlag führen wollen. Das zivile Rettungs- und Krankenhaussystem, das schon in Friedenszeiten an seine Grenzen kommt, würde zusammenbrechen.
Um solchen Kriegsszenarien Rechnung zu tragen, haben Länder sogenannte „Total Defense Concepts“ geschaffen. Bei uns in Deutschland heißt es „Gesamtverteidigung“. In ihr sind alle militärischen und zivilen Verteidigungs-Maßnahmen integriert - zumindest auf dem Papier. Es werden zwar regelmäßig Übungen durchgeführt, in denen zivile und militärische Stäbe Kommunikationsverfahren und Zusammenarbeit praktizieren. Das Chaos und die Not einer realen Kriegswelt reduzieren sich jedoch auf Lagebeschreibungen im Übungsordner. Reaktionen werden „gespielt“. In der tatsächlichen Welt wird nicht gehandelt. – Man muss davon ausgehen, dass die verantwortlichen Politiker, Militärs und Experten der Medien das alles wissen. Trotzdem spielen sie im Konflikt mit Russland die Abschreckungskarte. Man erhöht die Verteidigungs-Etats, rüstet auf und demonstriert an der östlichen Grenze des NATO-Gebiets militärische Stärke. Politiker aller Couleur werden nicht müde, Russland als Bedrohung darzustellen, und die Medien transportieren das Bild. Da stellt sich mir die Frage: Warum tun sie das? – Glaubt man an das Rational des Kalten Krieges, Frieden durch militärische Abschreckung? – Ein gefährlicher Glaube. Was ist, wenn die Abschreckung versagt? - Dann müssen wir den Krieg führen. Wer einer solchen Politik das Wort redet, hat aus der Geschichte nichts gelernt. Nachhaltige Friedenspolitik mit Russland ist nur durch Verhandlungen und aufeinander zugehen möglich. Willi Brandt lässt grüßen. – Für mindestens genauso gefährlich wie das alte Abschreckungsdenken halte ich die Verflechtung von Partial-Interessen einzelner Protagonisten.
Geo-strategische Interessen der USA in Europa, die immer auch Wirtschaftsinteressen sind, Bündnistreue der Europäer in der US-dominierten NATO, Besitzstands-Wahrung und -Vermehrung der Militärs, die natürlich immer das neueste und beste Gerät beschafft haben wollen und nicht zuletzt eine Industrie, die diese Wünsche gern erfüllen möchte. Ich halte diese in einer Ganzheitlichkeit wirkenden Partialinteressen deswegen für gefährlich, weil ein Kritiker der momentanen Russland-Politik sehr schnell als Verschwörungstheoretiker abgetan wird, wenn der auf das Interessengemenge verweist und damit natürlich vorgeschobene ethische und völkerrechtliche Motive der politisch Verantwortlichen entlarvt. Auf diese Weise lassen sich nämlich Störer mundtot machen, die für die Aufklärung der Öffentlichkeit unersetzlich sind, wenn Politiker Entscheidungen treffen, die ernsthafte Konsequenzen für die Existenz eines Volkes haben. Eine solche Verteidigungs- und Sicherheitspolitik in Bezug auf Russland ist meines Erachtens gefährlich und unehrlich. Das behaupte ich als jemand, der 35 Jahre in diesem System gearbeitet, mitgeplant und gelehrt hat.
Ein altes Sprichwort sagt: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er dann die Wahrheit spricht. Da drängt sich mir die Frage auf: In welchen anderen Bereichen wird noch unehrliche Politik gemacht? – Wir können es nur erfahren, wenn wir Störer zulassen.