Seit einigen Jahren erzählen Meteorologen uns jeden Tag, was die Temperatur, die sie uns vorhersagen, „gefühlt“ bedeutet, wenn wir draußen im Wind stehen. Wind Chill (Wind Frost) lautet der originäre Ausdruck für „gefühlte“ Temperaturen. In den kalten Gegenden unseres Planeten können Minustemperaturen plus Sturm lebensbedrohlich sein, wenn man sich ohne entsprechende Schutzkleidung im Freien aufhält. Bei uns haben „gefühlte“ Temperaturen keine allgemeingültige Bedeutung. Befindlichkeiten in Bezug auf Temperatur und Wind sind subjektiv. In einem anderen Bereich der täglichen Nachrichten wäre es viel wichtiger, wenn wir sie ausschließlich „gefühlt“ vermittelt bekämen.
Es sind die Nachrichten über Krieg und die damit verbundene menschliche Not. Ausschließlich bedeutet, dass die grenzenlose Gewalt in einem Krieg alle (be)trifft, Freund wie Feind. Wer die Gewalt begonnen hat, verschwimmt, wird unwichtig. Das gilt auch für den Krieg, der jetzt in der Ukraine tobt. Die Wut auf den Angreifer, der anscheinend vor keiner Gewalt zurückschreckt, ist schon längst in eine eigene Gewaltbereitschaft umgeschlagen, die auch vor nichts zurückschreckt. Junge russische und ukrainische Soldaten befinden sich in einer Gewaltspirale, die sich selbst befeuert. Wo immer sich diese Spirale entlädt, hinterlässt sie Zerstörung und Leid für die Zivilbevölkerung. Das einzig Menschliche, was Soldaten auf beiden Seiten „verbindet“, ist die Angst vor Tod, Verwundung und Gefangenschaft. In diesem Zustand wird das Hirn mit Adrenalin überflutet. Archaische Überlebensmuster laufen ab. Sie kennen sie. Flucht, Aggression oder Lähmung. Man läuft weg, oder man greift an, oder man stellt sich tot.
Soldaten hat man auf Aggression konditioniert. Wenn die von Todesangst getragen wird, läuft die Gewalt irgendwann aus dem Ruder. Dann geschehen Kriegsverbrechen. Was für ein unsinniger Begriff. Ein weißer Schimmel. Der Krieg selbst das Verbrechen. Er macht die Opfer zu Tätern und die Täter zu Opfern. Die eigentlichen „Kriegsverbrecher“ (in Gänsefüßchen deswegen, weil es keine juristische, sondern eine moralische Bewertung ist) sind diejenigen, die den Krieg zu verantworten haben. Das ist nicht nur Herr Putin, der entschlossen ist, russische Interessen mit Militärgewalt durchzusetzen, sondern sind genauso die politischen Führer des Westens, die durch ihre Verhandlungsunfähigkeit zu dessen Ausbruch beigetragen haben. Der Verdacht drängt sich auf, dass die anfänglichen Verhandlungsbemühungen vorgetäuscht waren. Die tägliche Kriegs-Rhetorik, massive Lieferungen von schwerem, modernen Kriegsgerät an die Ukrainer und nicht zuletzt die immer weiter eskalierenden Wirtschaftssanktionen sind eindeutig. Eine Verhandlungslösung ist nicht gewünscht. Man ist bereit, den Krieg fortzuführen und damit das menschliche Leid von Soldaten und Zivilisten weiter in Kauf zu nehmen.
Die Ausprägungen dieser Gefühllosigkeit haben schon lange Methode. Seit dem Ende des kalten Krieges berichten Medien immer wieder von Kriegen des Westens (Kosovo, Irak, Afghanistan, Libyen, Syrien, Ukraine). Bilder, Fakten und Nachrichten lassen nur ansatzweise erahnen, wieviel Leid die Menschen in den Kriegsgebieten jeden Tag ertragen müssen. Wir erfahren, wer „der Böse“ in dem Konflikt ist. Wir erfahren etwas darüber, was die UN oder die NATO tut oder tun sollte. Wir erfahren, was die verantwortlichen Politiker zum Problem zu sagen haben und was sie zu tun gedenken oder zumindest, was andere tun sollten. Und wir erfahren die Meinungen von Experten aus Politik und der Presse, die dann in Foren, Talkshows und an Stammtischen ausgiebig weiter diskutiert werden. Es wird die Demokratie beschworen, die Geschichte bemüht, und es wird moralisiert. Auf die Idee zu kommen, die Ereignisse mit dem Gefühl wahrzunehmen, kommt kaum einer. Warum das so ist, wird schon gar nicht hinterfragt.
Die litauischen Autoren des Buches „The War in Chechnia“ (der Tschetschenien Krieg), Stasys Knezys und Romanas Sedklickas, glauben, dass es bei der Berichterstattung über Krieg eine ethno-zentrische Arroganz im Westen gibt und zitieren den New York Times Journalisten Chuck Sedetik. Dieser nennt die Times-Style Methode bei der Darstellung von Krieg als gerechtfertigt. Sie fokussiert auf Institutionen sowie politische Führer und deren Pflichten und Entscheidungen. Die einfachen Menschen werden nur erwähnt, wenn sie als Beispiele dienen sollen. Bilder von gefallenen Soldaten, weinenden Müttern und toten Kindern sind Symbole, die man benutzt, um der eigenen Sache Legitimität zu verschaffen. Die tägliche Berichterstattung über den Ukraine-Krieg scheint eine solche Bewertung wieder einmal zu bestätigen.
Ob dieses Kultur-Phänomen „westlicher Arroganz“ zuzuschreiben ist, sei dahingestellt. Sicher ist, dass im westlichen Denken der Verstand dominiert und weniger das Gefühl. Wir scheinen vergessen zu haben, dass die Quelle unsere Verfassungen und internationalen Rechts die gefühlte Not von Menschen waren, die unter Unrecht, Gewalt und Willkür gelitten haben. Wenn wir von unseren Werten und Moralvorstellungen überzeugt sind und uns heute für Menschen einsetzen wollen, die unter Unrecht, Gewalt und Willkür leiden, reicht es nicht, wenn wir Demokratie fordern und uns im Übrigen zwischenstaatlicher Kraftakte bedienen, wie Waffenlieferungen an Konfliktparteien oder humanitäre Interventionen durch Bombardierungen. Die lösen den Konflikt nicht, sondern heizen ihn weiter an und verschlimmern Leid und Not der Menschen. Die Politik im Ukraine-Konflikt bestätigt einmal mehr ein Führungsverhalten, das typisch für unsere Kultur geworden ist. Es regiert der Verstand. Gefühl ist Privatsache. Vielleicht ist das der entscheidende Unterschied zwischen Politikern, die wiedergewählt werden wollen und Staatsmännern/-frauen. Beispiele aus unserer Geschichte bestätigen diese Annahme.
Bundeskanzler Willi Brandt hat zu Beginn seiner neuen Ostpolitik nicht nur die Bevölkerungen der DDR, Polens und Russlands „gefühlt“ wahrgenommen, sondern auch die Befindlichkeiten ihrer Führungspersonen. Dadurch war eine ehrliche Entspannungspolitik möglich. Zwanzig Jahre später stellte sich der Erfolg ein. Der Kalte Krieg wurde beendet und Deutschland wieder vereint. Damals hat man Willi Brandt im Bundestag wegen seiner Entspannungspolitik als Vaterlandsverräter beschimpft. Wie geschichtslos die Menschen doch sind. Es ist schon wieder so weit.
Wenn in diesen Tagen jemand die Waffenlieferungen an die Ukraine kritisiert, die sofortige Beendigung des Krieges fordert und gegenüber Herrn Putin eine Entspannungspolitik anmahnt, riskiert er, öffentlich als Feind der Demokratie und Putin-Versteher niedergemacht zu werden. Sogenannte Realpolitiker warnen immer wieder vor einer „gefühlten“ Außenpolitik. Sie ermutige Diktatoren, ihre Aggressionen fortzusetzen. Empathie mit Putin würde diesen ermuntern, als nächstes in die baltischen Staaten und Polen einzumarschieren. Irgendwann wären wir dann dran.
Das Beispiel, was gern gebracht wird, ist die Appeasement-Politik der Briten und Franzosen beim Münchner Treffen mit Adolf Hitler 1938. Deren „gefühlte“ Außenpolitik gegenüber dem Diktator hatte Kriegsverhinderung zum Ziel. Man wollte den Völkern Europas das Leid eines erneuten Krieges ersparen. Das Gegenteil trat ein. Nachdem man dem Diktator freiwillig den westlichen Teil der Tschechoslowakei (das Sudetenland) überlassen hatte, marschierte der ein knappes Jahr später in Polen ein, was den zweiten Weltkrieg ausgelöst hat. Solche Argumente sind aber aus dem Zusammenhang gerissen. Churchill selbst nannte in seinen Memoiren als eine der Hauptursachen für den Aufstieg Hitlers und damit für den zweiten Weltkrieg mangelndes Gefühl der Alliierten für das deutsche Volk bei der Abfassung des Versailler Friedensvertrages 1919, der defacto einer Bestrafung als alleiniger Kriegsschuldiger gleichkam. Kriegshistoriker bestätigen inzwischen die Erkenntnis des britischen Premiers. Die Politik des Westens im Ukraine-Krieg ist ein weiteres Beispiel dafür. Am Anfang jeder Argumentationskette über Ursachen von Kriegen steht die Unfähigkeit, den Feind „gefühlt“ wahrzunehmen. Mangelnde Empathie hat zum Krieg geführt, nicht der Interessenkonflikt selbst.
Was ist die Lösung? – Die Politiker austauschen? – Die Medien austauschen? – Das Volk austauschen? – An der Absurdität der Lösungsoptionen mögen sie erkennen, dass es keine Lösung im Sinne von „Ah, so geht das!- Lass es uns tun!“ gibt. Gefühl für das Leiden von Menschen anderer Völker und Empathie für deren politische Führer kann man nicht anordnen oder im Rahmen einer Ausbildung lernen. Die Lösung liegt meines Erachtens im Verstand jedes einzelnen.
Seien Sie sich bewusst, dass Nachrichten keine Wahrheiten verbreiten, sondern Sichtweisen. Welcher Sie folgen wollen, ist Ihre Sache. Werden Sie hellhörig, wenn jemand wegen seiner Sichtweise öffentlich diffamiert wird. Das gilt besonders dann, wenn Menschlichkeit als Motiv seiner Sichtweise erkennbar ist. Im Angesicht der westlichen Politik im Ukraine-Konflikt sollten wir solche Störer besonders wertschätzen. Wer Krieg das Wort redet und bereit ist, auf unbestimmte Zeit noch mehr menschliches Leiden in Kauf zu nehmen, zeigt nicht nur, dass es mit seinem Gefühl nicht weit her ist, sondern dass er auch nicht bei Verstand ist. Das ist jetzt verstandesgemäß eine „gefühlte“ Aussage. Wenn wir uns bei der nächsten Wahl daran erinnern, könnten wir etwas ändern.