Man soll Denken lehren, nicht Gedachtes
Vieles hätte ich gelernt, wenn man es mir nicht beigebracht hätte. - Jerzy Lec, polnischer Aphoristiker
Der Pausengong signalisierte das Ende einer Unterrichtsstunde. Ich stand mit der Karte von Russland bewaffnet vor dem Klassenraum der 8d und wartete darauf, dass die Tür aufging. Fünf Minuten vergingen, und es ertönte wieder der Gong, der den Beginn der nächsten Unterrichtsstunde verkündete, in diesem Falle meiner Stunde Geografie. Nun ist Deutsch zwar Hauptfach und Geografie nicht, aber ich wollte trotzdem nicht länger warten und öffnete laut vernehmlich die Klassenzimmertür. Kollegin „Deutsch“ war gerade dabei, die Hausaufgaben an die Tafel zu schreiben. Sie sah mich. „Ich bin gleich fertig!“ Die Schüler schauten etwas erschöpft drein. Ein Mädchen fragte mich, ob sie schnell noch auf die Toilette gehen dürfte. Ich schickte die gesamte Klasse in eine 5 Minuten Pause. „Entschuldige bitte, aber das musste sein,“ sagte meine nette Kollegin. „Sie waren etwas langsam, und ich musste heute meinen Unterrichtsstoff auf jeden Fall durchkriegen. Am Freitag schreiben wir eine Klassenarbeit.“ – Obwohl ich dieses typische Lehrerverhalten kannte, bin ich trotzdem immer wieder sprachlos. Lehrer lernen im Studium, dass das Implantieren von Wissen in ein anderes Hirn neurobiologisch nicht möglich ist. Trotzdem geben sie sich nach wie vor alle Mühe, die Inhalte des Lehrplans, man nennt es auch Wissen, mittels des Nürnberger Trichters in die Köpfe ihrer Schüler hinein zu pauken. Wenn das, wie wissenschaftlich erwiesen, nicht möglich ist, stellt sich die Frage, wie denn dann Lehren vor sich gehen soll, und was soll gelehrt werden? – Der einstmalige Rektor der TH Dresden, Prof. Dr. phil., Dr. theol. h. c., Dr.-Ing. E. h.Cornelius Gurlitt (1850 - 1938) hat es einmal kurz und bündig in einem Satz formuliert. Man soll Denken lehren, nicht Gedachtes. - Im Folgenden möchte ich Ihnen anhand eines Beispiels zeigen, was in diesem Sinne Denken ist, wie man Kinder dazu bringt, es zu tun, und warum es wichtiger ist als das Auswendiglernen von irgendwelchem Wissen, das andere einmal gedacht haben. Vorweg möchte ich Ihnen meine Definition von Denken anbieten: Denken ist der geistige Umgang mit Mustern.Was damit gemeint ist, soll am folgenden Beispiel deutlich werden.
Das Geografie Thema des Schulhalbjahres war in den 8. Klassen „Eine Welt – Viele Welten“. In der Einführungsstunde hatte ich eine Ihnen vielleicht bekannte Fotomontage der Erde bei Nacht an die Wand projiziert und die Schüler gefragt, was sie sehen.
Sie zählten die Kontinente auf. Dann sagte jemand, er sehe Lichter. Es begann ein kleiner Wettbewerb. Sie wetteiferten im Erkennen von Ländern und Städten. Ich fragte sie nach den dunklen Flächen. Sie identifizierten die Ozeane, die Sahara und das Amazonas-Gebiet. Was sagen euch Lichter und Dunkelheit noch, habe ich sie gefragt. Der berühmte Domino-Effekt setzte ein. Ich kam mit dem Tafelanschrieb kaum hinterher. Strom, Energie, Verschwendung, Reichtum, Armut, Hafenstädte, Handel … sie zoomten denkend in das Bild hinein, um im nächsten Moment wieder in die Totale zu gehen. Sie zerlegten das Nachtbild der Erde in Muster. Wir haben sie über eine Mindmap sortiert. Nachdem wir auf diesem Wege Themen-Muster entwickelt hatten, half ich mit dem Begriff „Globalisierung“. Jetzt ging ihnen ein Licht auf, was damit gemeint war. Sie bekamen die Aufgabe, sich zu zweit zusammenzutun, sich aus der Mindmap ein konkretes Thema herauszusuchen und eine Präsentation darüber anzufertigen, um es zu einem festen Termin der Klasse vorzustellen. Als ich sie mit einer Zeugnis wichtigen guten Note lockte (ein bisschen extrinsische Motivation gehört dazu) waren sie Feuer und Flamme. Eigenständiges Denken setzte ein. Als ich ihnen Beispiele von konkreten Themen nannte, entbrannte der Ehrgeiz, über etwas Besonderes vorzutragen. In den folgenden Geografie-Stunden erfuhren wir u.a. etwas über die Rolle des Sports (hier Fußball) in der Welt, über Plastikmüll in den Weltmeeren, den Flüchtlingstragödien im Mittelmeer und Kinderarbeit in Bangladesh. In den anschließenden Diskussionen lernten sie, dass alles mit Allem zusammenhängt. Als sie begriffen, dass es nicht darum ging, es mir recht zu machen, begannen sie mit Mustern zu spielen.
Sie abstrahierten, reduzierten, substituierten und assoziierten, ohne dass es ihnen bewusst war. Irgendwann habe ich ihnen dann die Muster des Denkens vorgestellt und sie darüber gelobt, wie gewandt sie mit ihnen umgehen. Das Lob fiel auf fruchtbaren Boden. Sie benutzten seitdem die Denkbegriffe sinngemäß, wann immer sie diskutierten. Sie tun es auch zu Hause, wie mir erstaunte Eltern berichtet haben. Ich bin sicher, dass „meine Kinder“ auch in anderen Fächern angefangen haben zu denken. Man könnte diese Fähigkeit potenzieren, wenn der Prozess des Denkens Fächer übergreifend orchestriert werden würde. Geschichte, Philosophie, Geografie, Kunst, Physik, Biologie, Sprache ja sogar Mathematik sind in Allem und wichtig, wenn man das Ganze verstehen will.
Sie werden jetzt fragen, wo die Kinder Wissen herbekommen. Nun, das geschieht so gut wie von selbst. Wenn Schüler ein Thema vorbereiten, das sie interessiert, werden sie sich alle nötigen Informationen besorgen, manchmal aus Büchern, meistens aus dem Internet. Denken wird zum Spiel und erzeugt nebenbei auch noch Wissen, das nachhaltig ist. Aber nicht nur Schüler würden von einer Kultur des Denken-Lernens profitieren, sondern auch Lehrer.
Jugendliche, die auf diese Weise an Leistung herangeführt werden, hätten meines Erachtens weniger Probleme, sich den Pflicht-Toren des Lehrplans zu stellen. Das bedeutet nicht nur weniger Stress im Unterrichtsalltag, sondern vor allem bestandene Prüfungen mit guten Ergebnissen, das größte Lob für die Arbeit eines Lehrers.
Und, um den Kreis rund zu machen, auch die Volkswirtschaft würde von einer solchen Schulausbildung profitieren. Wer ins Berufsleben einsteigt und Denken gelernt hat, besitzt optimale Voraussetzungen als versierter Aufgaben- und Problemlöser. Der ist nicht nur in der Lage, mit den altbekannten Mustern seines Arbeitsumfeld verantwortlich umzugehen, sondern der traut sich auch, mit Mustern zu brechen, wenn sie nicht mehr zielführend sind und neue Wege zu gehen. In diesem Sinne wäre das Denken-Lernen ein neuer Weg in der Schulausbildung. Ihn zu gehen bedarf es meines Erachtens keiner Schulreform, sondern eines Musterbruchs im Denken von Lehrern. Nicht Wissensvermittlung ist ihre Aufgabe, sondern das Motivieren und Moderieren von eigenständigem Denken. - Beim Militär lautet ein Spruch: Schwerer als eine neue Idee in den Kopf eines Generals hineinzubekommen ist eine alte Idee hinaus. Bleibt mir die leise Hoffnung, dass diese Erkenntnis nur auf Kommissköpfe zutrifft.