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Lehrer sein heißt sich selbst sein
„Vieles hätte ich gelernt, wenn man es mir nicht beigebracht hätte.“ - Jerzy Stanislaw Lec, polnischer Dichter und Aphoristiker
In einer meiner letzten Geschichten über den Alltag als Vertretungslehrer hatte ich Ihnen ja erzählt, warum mit Kindern lernen dem Fliegen mit einem Adler gleicht. Diese Aussage gilt nicht unbedingt für die letzte Unterrichtsstunde am Tag, vor allem, wenn es die siebente ist. Dann ist man auch als Lehrer erschöpft und verlässt sich auf seine Routine, um in dieser der letzten Stunde seinen Schülern noch etwas beizubringen. Die Kinder sind nach 6 Stunden Unterricht, die oft mit Klassenarbeiten oder anderen Leistungsnachweisen angefüllt sind, fix und fertig. Ihre Kraft für Disziplin und Aufmerksamkeit ist am Ende. Sie haben Hunger nach Essen, Bewegung und Chillen.
Genauso stand damals meine 8. Klasse zur Begrüßung vor mir und wollte nicht zur Ruhe kommen. Jeder schwatzte mit jedem, ein Radiergummi flog durch den Raum, irgendjemand schubste seinen Nachbarn … trotz aller meiner Tricks konnte ich sie nicht beruhigen. An Unterricht geschweige denn Lernen war nicht zu denken. Dann kam mir eine Idee: Aushüpfen. Nach der Begrüßung habe ich sie wieder aufstehen lassen. Schaut her, habe ich Ihnen zugerufen, und dann begann ich mit Aushüpfen. Das ist eine Technik, die ich mal in einem Schauspiel-Kurs für Emotionstraining gelernt hatte. Mit ihr lassen sich physische und psychische Spannungen sehr leicht und schnell abbauen. Man springt mit heruntergelassenen Armen auf den Fußballen federnd leicht auf und ab und lässt dabei alle Muskeln, vom Gesicht über den Körper bis in die Hände, locker fallen. Dabei wird ohne Anstrengung Luft über die Stimmbänder gedrückt, so dass ein tiefer Ton ertönt, der durch das leichte Springen rhythmisch moduliert wird. Zuerst haben die Kinder mir fassungslos zugeschaut, und dann haben sie gelacht und es nachgemacht. Für einige Minuten war der Raum erfüllt vom rhythmischen Schwingen des Springens und Brummens, das immer wieder von Lachen unterbrochen wurde. Nachdem alle wieder saßen, war jede Lustlosigkeit und Abgespanntheit verflogen. Die letzten 35 Minuten der Unterrichtsstunde verliefen entspannt und konzentriert. Die Geschichte ist aber noch nicht zu Ende.
Eine Woche später, es war die 7. Stunde, war meine 8. wieder außer Rand und Band. Ich bekam sie nicht zur Ruhe. Da sagte ich leicht resignierend zu den Schülern in der ersten Reihe vor mir: Was soll ich bloß tun? - Sie wollen nicht! Da begannen zwei Jungs und ein Mädchen vor mir mit Aushüpfen und strahlten mich dabei an. Im nu hüpfte die ganze Klasse. Ich war gerührt und habe ihnen Beifall geklatscht. Sie hatten etwas gelernt, ohne dass ich ihnen etwas beigebracht hatte. Sie hatten gelernt, sich selbst als Problem zu erkennen und dann das Richtige zu tun, damit sie und ihr Lehrer in der letzten Unterrichtsstunde stressfrei und fokussiert miteinander lernen konnten. Ich habe die Geschichte einer Freundin erzählt, die von Beruf Kinderpsychologin ist. Ihre Antwort hat mir meine langjährigen Erfahrungen in der Menschenführung bestätigt.
Du hast nicht die Machtkarte der Schule gezogen und Anweisungen gegeben und bestraft, sondern Dich in Deiner Hilflosigkeit gezeigt, als die Schüler Deine Anwesenheit ignorierten. Mit dem Aushüpfen hattest Du nicht nur Dir selbst die innere Anspannung genommen, sondern die Aufmerksamkeit der Kinder auf Dich gezogen. So etwas hatten Sie bei einem Lehrer noch nie erlebt, sich scheinbar zum Affen machen. Sie waren voll bei Dir, ohne dass Du irgendetwas wichtiges reden oder tun musstest. Romano Guardini, einer der großen Lehrer der katholischen Kirche, hat einmal sagt: “ Das erste Wirkende ist das Sein des Erziehers, das zweite, was er tut, das dritte, was er redet.”
Ich denke, dass ich etwas getan habe, was man nicht lernen muss und auch nicht lernen kann, nämlich sich selbst sein. Da stellt sich die Frage, warum so wenig Lehrer es tun, sich selbst sein. Auch für diese Frage gibt es als Antwort einen passenden Aphorismus, dieses Mal von Ödön von Horváth: „Eigentlich bin ich ganz anders. Nur komme ich so selten dazu.“ - Lehrer haben keine Zeit. Die Zeitfresser sind bekannt: Der Lehrplan, die Hausaufgaben, die Klassenarbeiten, mündliche Noten, die Eltern, die Zeugniskonferenzen und noch einige mehr. Krank wird man am Wochenende oder in den Ferien. Das System lässt sich so schnell nicht ändern. Aber die Lehrer könnten sich ändern, indem sie sich immer wieder die Zeit nehmen und mit ihren Schülern SIND. - Wann soll denn dann Lernen stattfinden, fragen Sie? – Romano Guardini gibt die Antwort. - Genau dann! -