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Sie kennen vielleicht die kleine Weisheit, die man früher auf der Rückseite von Abreißkalender lesen konnte. „Die Welt ist immer nur so, wie wir sind.“ Heute gibt es kaum noch Abreißkalender, und auch die Weisheit bräuchte eine Ergänzung. „Die Welt ist immer nur so, wie sie in unserem Handy ist, und das zeigt uns, wie wir sind.“ Eine Anwendung, die das Phänomen sehr deutlich zeigt, ist YouTube. Wenn Sie sie öffnen, bekommen Sie Clips angeboten, die Sie nicht ausdrücklich gesucht hatten, die aber inhaltlich zu Themen passen, die Sie interessieren. Das ist möglich, weil die Anwendung die Historie Ihres Click-Verhaltens „kennt“. Das wiederum wird vom Verstand und noch viel mehr vom Gefühl gesteuert. Dieser Umstand wurde mir wieder einmal bewusst, als ich vor einigen Tagen einen Ausschnitt aus einer Lanz-Talkshow angeboten bekam. Normalerweise schaue ich mir solche Beiträge nicht an. Verschleißerscheinungen aus der Corona-Zeit. In diesem Fall habe ich doch angeklickt. Der Gast, der in einem kleinen Ausschnitt zu Wort kam, war Jens Spahn, der Gesundheitsminister aus Corona-Zeiten. Für mich eigentlich Grund genug, nicht anzuklicken. Ich tat es trotzdem. Der Titel des kurzen Ausschnitts hatte mich neugierig gemacht. Er lautete: Werden AfD-Wähler zu schnell abgestempelt? – Und, oh Wunder, Herr Spahn vertrat genau diese Ansicht. Er führte aus, dass die meisten AfD-Wähler keine Neo-Nazis seien. Ihr Wahlverhalten entspringe einer echten Sorge um die Migrations- und Integrationspolitik der Bundesregierung. Man müsse diese Wähler ernst nehmen. Eine späte Einsicht. Sie lässt den Verdacht aufkommen, dass sie eher einem Wahl-taktischen Kalkül geschuldet ist als einer demokratischen Gesinnung. Wenn immer mehr Menschen die AfD wählen, bedeutet das Stimmenverlust für die etablierten Parteien und eine Aufwertung der AfD. Da ist es einfach klug, AfD-Wähler endlich ernst zu nehmen. Der Verdacht des Taktierens wurde erhärtet, als man den Rat von Herrn Spahn an die Kollegen der „wahren“ demokratischen Parteien hörte. Sie sollten die Auseinandersetzung mit der AfD nicht emotional führen, sondern mit Sachargumenten. Hätte er doch diesen Rat gedacht, als er noch Corona-Gesundheitsminister war. Aber vielleicht hat er ja dazu gelernt. Es sei ihm konzediert. Diese Annahme ist nicht ironisch, sondern mit Gefühl und Verstand empathisch gemeint. Eine Meinung zu haben und sie zu ändern, wenn man dazugelernt hat, ist Teil der Meinungsfreiheit. Sie gilt insbesondere dann, wenn die Meinung eines anderen einem nicht gefällt. Die menschliche Kompetenz, die diese Forderung des Grundgesetzes mit Leben erfüllt, heißt Empathie, die gefühlsmäßige und sachliche Auseinandersetzung mit dem Andersdenkenden. Wenn Herr Spahn eine emotionslose Auseinandersetzung mit den Meinungen von AfD-Wählern fordert, lässt mich das an seiner Fähigkeit zur Empathie mit politisch Andersdenkenden zweifeln. Dieser Mangel an Empathie ist nicht nur in der Politik und in den Medien anzutreffen, sondern auch in weiten Teilen der Bevölkerung.
Die Unversöhnlichkeit in der Auseinandersetzung um die „richtige“ Politik in der Corona-Krise, in Fragen der Migration und Integration von Flüchtlingen, in Sachen Klima, im Ukraine-Konflikt, in der selbstgemachten Wirtschaftskrise und nicht zuletzt gegenüber Russland und China zeugt für mich von einer Empathielosigkeit, die auf eine Kulturarroganz hinweist. Sie wirkt im inneren genauso wie im äußeren unserer Gesellschaft. Wer die Lockdowns in Frage stellte, wurde als Virusleugner diffamiert. Wer bei Zuwanderung und Integration von Flüchtlingen Kritik übt, weil er die Sicherstellung des Wohls deutscher Bürger als vorrangig sieht, wird sehr schnell als Neo-Nazi oder Rassist hingestellt. Und wer es wagt, die globale Erwärmung auf natürliche Ursachen zurückzuführen, ist ein Spinner, der mit Ignoranz und Geringschätzung bestraft wird. Kulturarroganz. Es gibt eine „richtige“ Wissenschaft, eine „richtige“ Politik und eine „richtige“ Meinung. Das „richtig sein“ hat eine Kultur geschaffen, die keine zweite Meinung duldet. –
Im äußeren erinnert diese Kulturarroganz an die Arroganz der Kirche des Mittelalters (Kreuzzüge, Eroberungen) und die der Kolonialstaaten des 19. Jahrhunderts (right or wrong, my country und am deutschen Wesen soll die Welt genesen). Heute wird äußere Kulturarroganz durch unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem geprägt. Demokratie, Menschenrechte und internationales Recht werden beschworen, um globale Wirtschafts-Konkurrenten (Russland und China) auszuschalten. Dabei wird unterschlagen, dass diese hären Ideen für eine Weltgesellschaft aus dem christlich-abendländischen Kulturkreis stammen. Empathie mit Denkweisen in Regierungen anderer Kulturen wäre angebracht (z.B. mit Herrn Putin in der Ukraine-Frage). Stattdessen setzen wir sie wirtschaftlich unter Druck (Sanktionen), bauen Drohkulissen auf (NATO) und führen sogar Kriege (Afghanistan, Irak, Syrien, Ukraine). Perfide wird es, wenn wir selbst als erklärte Beschützer dieser Werte dagegen verstoßen (Folter, Drohnenexekutionen, Ignorieren der Internationalen Gerichte in Den Haag durch die USA). Kulturarroganz. Wer nicht für uns „Gute“ ist, ist gegen das „Gute“. Da stellt sich mir die Frage, woher diese Kulturarroganz kommt. Eine Ursache sehe ich in der Art und Weise, wie unsere Kinder in der Schule sozialisiert werden. Es geht um die Meta-Kompetenzen, wovon Empathie eine davon ist. ich habe an einer anderen Stelle darüber geschrieben. Können wir etwas ändern? – Das wird schwer. Schließlich geht es um Kulturveränderung und die braucht manchmal Generationen. Bleiben Bildung und Diskurse.
Konkret: Es geht darum zu verstehen, dass jeder Mensch wahr-nimmt und nicht falsch-nimmt. Das gilt für Lehrer und Schüler, den eigenen Ehepartner, den politisch Andersdenkenden und auch für Herrn Putin. Wenn man mit dem anderen im Sinne der eigenen Werte zu einer einvernehmlichen Lösung kommen will, ist Empathie der erste Schritt. Den bekommen wir zumindest im persönlichen Bereich ganz gut hin. Schwierig wird es beim zweiten. Er verlangt nämlich, sich selbst in Frage zu stellen. Eine solche Denkweise kommt aus der Systemtheorie. Man nennt es das Denken in der 2. Ordnung. Hier wird sie kurz erklärt und bildlich dargestellt. Schauen Sie mal rein. Es lohnt sich.