„Es ist sicher leichter eine Herde Schafe zu hüten als ein Rudel Löwen. Aber mit Löwen hat man mehr Wirkung am Feind!“ -
Helmut Graf von Moltke, preußischer Generalfeldmarschall (1800 – 1891)
„It´s all my fault!“ (Es ist alles meine Schuld). Dieser Satz, den ein General der Südstaaten nach einer verlorenen Schlacht im amerikanischen Bürgerkrieg gesagt hat, mutet befremdlich an. Wir sind gewohnt, dass, wenn etwas schiefgelaufen ist, immer irgend jemand (anders) schuld ist. Wenn eine siegesgewohnte Bundesligamannschaft ein Spiel verliert, würde ein Trainer oder gar Vereinspräsident niemals sagen: „It´s all my fault!“ Warum sollten sie auch?! Die Mannschaft hatte schlecht gespielt. Um einen Schein von Solidarität in der Niederlage zu wahren, benutzt man das Wir. Wir haben schlecht gespielt. Dabei wäre in einer solchen Situation Menschenführungsqualität gefragt. Trainer und Vereinspräsident sollten eine Niederlage immer auf ihre Kappe nehmen. Das hat vordergründig faktische Gründe. Das fertige Produkt „erfolgreiche Mannschaft“ besteht aus den Faktoren Spielerreservoir, Vorbereitung, Einstellung und Aufstellung. Alle liegen in der Verantwortung von Führung. Lässt man die Unwägbarkeiten wie den Gegner und Umweltfaktoren außer acht, ist unschwer zu erkennen, warum die Schuld für eine Niederlage einzig und allein bei der Führung liegt. Der Führungssatz „It´s all my fault“ ist aber mehr als nur die Anerkenntnis der alleinigen Verantwortung für eine Niederlage. Es enthält eine Power-Botschaft an die eigene Mannschaft. Ihr seid richtig. Traut euch. Wagt etwas. Ich stehe zu euch. Sie hat nicht nur bei Fußballmannschaften eine Power-Wirkung, sondern auch bei Managern und Mitarbeitern in Firmen, Konzernen, Organisationen und Regierungen. Sie geht sogar noch über das Verbindende hinaus und verlangt das scheinbar Trennende, den Ungehorsam.
Ungehorsam sein heißt, zu widersprechen, dem Chef „Nein“ zu sagen, wenn eine scheinbar einstimmig getroffene Entscheidung einem sachliche oder moralische Bauchschmerzen macht. Wer weiß, vielleicht wäre es im Jahr 2010 nicht zu der Erdöl-Umweltkatastrophe am Golf von Mexiko gekommen, wenn jemand im Vorstand des verantwortlichen Öl-Konzerns BP aufgestanden wäre und gegen das Bohren in 1500 Meter Wassertiefe ohne ausreichende Sicherheitsvorkehrungen Position bezogen hätte. Vielleicht hätte es eine menschlichere Corona-Politik gegeben, wenn es in den politischen Entscheidungsgremien einen Geist des Ungehorsams gegeben hätte. Das Gleiche gilt für die Redaktionen der Mainstream Medien. Der ZEIT Redakteur Marc Brost hatte vor einigen Jahren dieses „Vielleicht“ in seinem Artikel „Wir waren zu feige“ thematisiert. Er bezog die Feigheit nicht nur auf Manager der Wirtschaft und Politiker, sondern auch auf Redakteure. Es scheint, dass diese Feigheit kein individuelles Verhaltensmuster ist, sondern eine kulturelle Ursache hat.
Meine Erfahrungen als Vertretungs-Lehrer in den letzten 10 Jahren haben mich darauf gebracht, dass sie in der Schule zu finden ist, genauer gesagt, in der Unfähigkeit von Lehrern zur Menschenführung. Sie zeigt sich in drei Grundaussagen, denen ich im Schulalltag immer wieder begegnet bin.
Schüler, die nicht leisten, sind unfähig oder wollen nicht.
Schüler, die stören, müssen diszipliniert werden.
Der Lehrer hat immer recht.
Es ist müßig, diese drei Einstellungen an Beispielen widerlegen zu wollen, was mir leichtfallen würde. Entscheidend ist die Revidierung des Satzes Nr. 3. Führung hat nicht immer recht, schon gar nicht, wenn sie sich als Menschenführung versteht. Kinder wollen leisten. Vielleicht leisten sie deswegen nicht, weil der Unterrichtsstoff nicht richtig erklärt wurde. Vielleicht stören sie deswegen, weil der Unterricht langweilig ist. Wenn Lehrer sich ihrer Verantwortung zur Menschenführung bewusst wären, dann würden sie schlechte Noten in einer Klassenarbeit und renitente Schüler auf ihre Kappe nehmen und sich manches Mal dazu bekennen. „It´s all my fault!“ – Zum Abschluss meines Plädoyers für mehr Menschenführung in unserer Gesellschaft möchte ich Ihnen kurz die Geschichte des Zitats erzählen.
Wohl kaum ein militärischer Führer war bei seinen Soldaten so beliebt und bei seinem Gegner so geachtet wie Robert E. Lee, kommandierender General der konföderierten Armee von Nord Virginia. Obwohl er im US-amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) für den Süden gegen den Norden kämpfte, wird er heute von allen Amerikanern als einer der Ihren in Besitz genommen. Was ihn über seine militärischen Qualitäten hinaus einmalig gemacht hat, war seine Fähigkeit zur Menschenführung. Wenn eine Schlacht verlorenging und viele Opfer zu beklagen waren, übernahm Lee allein die Verantwortung, so wie bei Gettysburg am 03. Juli 1864. Als der Frontalangriff dreier seiner Divisionen gegen die Verteidigungspositionen der Nordstaaten zusammengeschossen wurde – innerhalb einer Stunde lagen mehr als 50% der 12500 Angreifer tot oder verwundet auf dem Schlachtfeld – gab Lee einem seiner Divisionskommandeure, Generalmajor George Picket, den Befehl, seine Soldaten zu sammeln und in Stellung zu bringen, um den Gegenangriff abzufangen. Picket antwortete: “Ich habe keine Division mehr, Sir!“ Lee erwiderte: ”Sie und Ihre Männer haben mehr gegeben, als ich je erwarten konnte. It´s all my fault!“
Lees Haltung entsprang keiner Ausbildung, in der er Methoden im Führen von Menschen gelernt hatte, sondern einer inneren Überzeugung. Er hat seinen Soldaten vertraut, sie gelobt und ihren Eigensinn bis hin zum Ungehorsam in der konkreten Situation eines Feldzuges nicht nur geduldet, sondern immer wieder gefördert. Dadurch hat er eine Gemeinschaft geschaffen, deren Qualitätsmerkmale Selbstvertrauen, selbstständiges und kritisches Denken, Entscheidungsfreude im Handeln und nicht zuletzt Treue zum ihm und der gemeinsamen Sache waren. Tragischer Weise hat gerade die Treue zu ihm den Ungehorsam unmöglich gemacht, der den mörderischen Frontalangriff hätte verhindern können. Seine rechte Hand, der Kommandeur des 1. Corps, General Pete Longstreet, war dagegen und hatte den Tag zuvor immer wieder versucht, Lee davon abzubringen. Ohne Erfolg. Als es so weit war, gab Longstreet selbst den Befehl an seine Divisionskommandeure, mit dem Angriff zu beginnen.
Ich möchte mit dem von Moltke Zitat in der Überschrift beschließen. Wenn wir es wagten, in der Schule Kinder zu Löwen zu erziehen, dann bestünde die Chance, dass sie später einmal maximale Wirkung erzielen, in der Wirtschaft, in der Politik, beim Militär und nicht zuletzt auch im eigenen Leben. Das setzt allerdings voraus, dass Lehrer keine Angst vor Löwen haben.