„Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl“ lautet der Refrain eines Liedes von Herbert Grönemeyer. Seit einigen Jahren überschwemmen Flüchtlingswellen unser Land. Mit ihnen kommen Tausende von Kindern zu uns. Es ist gleichgültig, aus welchem Grund ihre Eltern die Heimat verlassen haben, sie alle haben geliebte Verwandte, Freunde und eine vertraute Umgebung aufgeben müssen. Viele sind durch Krieg, Gewalt und Fluchterlebnisse traumatisiert.
Die unterschwellige Traumatisierung, die alle betrifft, ist der Verlust des Gefühls von Geborgenheit. Ein intaktes Familienleben kann diesen Verlust mildern aber nicht kompensieren. Eltern kommen an ihre Grenzen, wenn ihre Kinder unserer Kultur ausgesetzt sind. Medien, Werbung, Handys und der oftmals schlechte Einfluss der sozialen Umgebung, in der sie eine Wohnung gefunden haben, entfremden die Kinder von ihrer eigenen Kultur. Sie erfahren eine verführerische Ablenkung, ohne dass sie ihnen das gibt, was sie eigentlich brauchen. Geborgenheit.
Unser Staat bemüht sich, diese Kinder zu integrieren. Das gilt im Besondern für die Schulausbildung. Beschulungskonzepte wurden aufgelegt. Inklusion ist das „Buzzword“. Nach einer Sprachausbildung, die einem Schulbesuch vorgeschaltet ist, werden sie in einen schulischen Vorlauf genommen, der sie auf den Regelunterricht vorbereiten soll. Für einige funktioniert das System, für andere nicht. Letztere erkennt man daran, dass sie unentwegt stören bzw. den Unterricht verweigern. Genervte Lehrer wissen sich am Ende nicht anders zu behelfen, als zu den bekannten Disziplinierungsmaßnahmen einer Schule zu greifen. Dabei sind sie sich des Schicksals dieser Kinder, heimatlos zu sein, durchaus bewusst. Fehlende Geborgenheit als Ursache des Störens zu begreifen und sich dieser Ursache zu stellen, findet oft nicht statt. Darum sollen sich Sozialpädagogen und Schulpsychologen kümmern. Schließlich gibt es einen Lehrplan, und die angepassten Kinder haben ein Recht auf störungsfreien Unterricht. Das sehe ich nicht so. Wenn Inklusion erfolgreich sein soll, darf im Unterricht nicht mehr die Erfüllung des Lehrplans im Mittelpunkt stehen. Stattdessen sollten sich Lehrer darum bemühen, Kindern ein Gefühl von Geborgenheit zu geben. Das gilt insbesondere für die, die unter Heimatlosigkeit leiden und durch ihr Stören um Zuwendung betteln.
Genau diesen Anspruch äußerte mir gegenüber die alltagsweise Schulleiterin einer Hamburger Gesamtschule in einem sogenannten Brennpunktstadtteil. Vor ein paar Jahren hatte sie mich angestellt, um eine 9. Klasse in Englisch auf den ESA (Erster Allgemeinbildender Schulabschluss) vorzubereiten. Die Klasse bestand aus 15 Schülern, die bis auf drei einen Migrationshintergrund hatten. Mein erstes Ziel war, dass sie gern in meinen Unterricht kommen. Zu Beginn jeder Stunde bat ich sie zur Begrüßung aufzustehen, Blickkontakt mit mir aufzunehmen und das Reden einzustellen. So viel Disziplin musste sein. Dann haben wir uns unterhalten. Sie waren neugierig auf mich und ich auf sie. Zwei Mädchen, die sehr selbstbewusst auftraten, machten den Anfang.
“Glauben Sie an Gott? - Beten Sie?”, fragte mich Özlem. „Ja“, sage ich, „ich glaube zwar nicht an einen katholischen oder evangelischen oder sonst irgendeinen Religionsgott, aber ich glaube an Engel, und ich bete auch manchmal.“ – Özlem und Güler schauten sich erleichtert an und gaben sich das Daumen-nach-oben Zeichen. Die beiden sind zwei 15jährige türkische Mädchen, die in Hamburg-Altona geboren wurden. Özlem sieht aus wie ein deutscher Teenager, trägt Jeans, Bluse, Schmuck, hat dunkelbraune lange Haare und ist geschminkt. Sie ist Muslimin, genauso wie Güler. Die ist traditionell gekleidet, was ihr sehr gutsteht. Ich fragte die Mädchen, was ihnen wichtig ist und wie sie sich ihre Zukunft vorstellten.
Güler wollte Reisekauffrau werden. Ihr Traum war, einmal einen BMW-Cabrio zu fahren. Für ihr weiteres Leben wünschte sie sich, einen muslimischen Mann zu heiraten, der sie liebt und mit dem sie viele Kinder haben wollte. Ihr größter Wunsch war, mit allen einmal nach Mekka zu pilgern, wo sie gerade mit ihren Eltern gewesen war. Das Erlebnis hatte sie überwältigt.
Özlem wollte Kinderärztin werden. Sie erzählte von ihren Großeltern, die in der Türkei lebten. Ihren Großvater liebte sie über alles. Weil er so süß ist, sagte sie. Ihr Traum war, irgendwann eine eigene Familie zu haben und viele Kinder. Sie wünschte sich, dass ihre ganze Familie, ihre Eltern und ihre Geschwister, ihre Lieblingscousine und natürlich ihr Großvater in ihrer Nachbarschaft wohnten, damit sie jeden Tag zusammen sein konnten.
Ich weitete die Frage auf die anderen Kinder aus und begann mit Jiro, einem 16jährigen Jesiden, der vor einem Jahr mit seinen Eltern aus dem Nord-Irak vor dem „Islamischen Staat“ geflüchtet war. Der Junge war immer sehr ernst und verschlossen. Er verweigerte, als ich ihn zum Reden animieren wollte. Da mischten die beiden Mädchen sich ein. In rührender Weise haben sie ihn zum Reden gebracht. Sein größter Wunsch war, wieder nach Hause in den Nord-Irak zu gehen, um seine Familie und Freunde wiederzusehen, die er sehr vermisste. Aber vorher möchte er in Deutschland Architekt studieren. Er wollte helfen, seine zerstörte Heimatstadt wieder aufzubauen. Die Klasse hat ihm applaudiert. Kann es ein schöneres Lob geben?! – Jetzt fragen Sie sich natürlich, wie ich die Kurve zum Englisch-Unterricht hinbekommen habe. Mit Musik.
Die Kinder liebten die Boy-Group One Direction. Nach der Gesprächsrunde zeigte ich einen YouTube-Clipvon der Gruppe. Vor Allem die Mädchen tanzten und sangen mit. Dann habe ich eine Kopie mit dem Song-Text verteilt, den sie übersetzen sollten. Vokabeln durften sie mit dem Handy googlen. Es wurde eine Grammatikstunde. Das Erlernen von Satzbau, Konjugationen, Adjektiven usw wurde zum Selbstläufer. Am Ende wollten sie den Clip noch einmal sehen. Ein ganz neues Musikerlebnis. Sie verstanden den Text.
Mein Beispiel kann keine Blaupause für den „richtigen“ Unterricht in einer Inklusionsklasse sein. Mir kam es darauf an, darauf hinzuweisen, dass für Kinder die Basis allen Lernens das Gefühl von Geborgenheit ist. Der Lehrer ist dabei die wichtigste Bezugsperson. Der Weg dahin ist immer derselbe. Die Kinder in ihrer Welt abholen, Gemeinschaftssinn anzünden und loben, immer wieder loben.