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Fragging – Wenn Führung Menschen missbraucht
Das englische Wort „Fragging“ kommt von dem Verb „to frag“ und bedeutet splittern. Im militärischen Sprachgebrauch wird damit eine besondere Waffenwirkung beschrieben. Handgranaten zum Beispiel, die im Nahkampf mit gegnerischen Truppen per Hand geworfen werden, töten oder verwunden durch Metallsplitter. Handgranaten wurden im Vietnamkrieg (1965-1975) durch US- Soldaten benutzt, um unerkannt eigene Vorgesetzte auszuschalten. Es gibt 230 bestätigte Tötungen von Vorgesetzten durch eigene Soldaten und 1400 vermutete. Die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich noch höher. Allein 1970-1971 wurden 363 versuchte Tötungen gemeldet (Zahlen aus Wikipedia). Im GI-Jargon (GI = umgangssprachlich für US-Soldat) nannte man das „Fragging“. Ursache für „Fragging“ war die Unfähigkeit von Vorgesetzten zur Menschenführung. Die äußerte sich u.a. in mangelnder fachlicher Kompetenz, Feigheit, unnötigem Wagemut aus egoistischen Motiven und mangelnder Empathie.
In Kriegen wird es solche Verzweiflungstaten wahrscheinlich schon immer gegeben haben. Die Täter wegen Kriegsverbrechen juristisch zu belangen oder deren unmittelbare Vorgesetzte für ihre Unfähigkeit zur Menschenführung zu verurteilen übersieht, dass sie alle Opfer waren. Sie befanden sich im Krieg, dessen Alltag darin bestand, zu töten oder getötet zu werden, ganz abgesehen von den schrecklichen Grautönen, körperlich und seelisch verletzt oder sogar verstümmelt zu werden. Die eigentlichen Versager in der Menschenführung waren meines Erachtens die verantwortlichen Politiker und deren militärische Berater in Washington. Mit abstrakten Floskeln wie Demokratie, Selbstbestimmung und Souveränität für das vietnamesische Volk begründeten sie ihre Absicht, dem vermeintlichen von Moskau gesteuerten Weltkommunismus durch Krieg Einhalt zu gebieten. Dass dabei am Ende 58 000 US-Soldaten und 4 Millionen Vietnamesen und Angehörige anderer Völker ihr Leben verloren (die Zahlen variieren je nach Quelle), war man bereit, in Kauf zu nehmen. Wie wir heute wissen, wurde der Krieg durch das amerikanische Volk beendet. Durch Fragging. An dieser Stelle möchte ich diesen Begriff aus seiner Menschen -mordenden Bedeutung herausnehmen und eine politische geben.
Eine Politik, die Millionen von Menschen umbringt oder zu Opfern macht, zeugt von einer eklatanten Unfähigkeit zur Menschenführung. Dem Missbrauch von Menschen, der sie kennzeichnet, Einhalt zu gebieten, geht in einer Demokratie nur über eine informierte Öffentlichkeit und kritische Bürger. Nur beide zusammen sind in der Lage, menschenfeindliche Menschenführung zu (zer)stören. Beim Fragging der politischen Art ist nicht ein Mensch das Ziel, sondern menschenfeindliches Denken.
In den USA sorgte damals eine freie Presse, die den Menschen die Schrecken des Krieges täglich über das Fernsehen unzensiert in die Wohnzimmer übertrug, für eine Änderung im Denken. Eine Nation, die gewohnt war, ihre Kriege zu gewinnen, hatte den Frieden entdeckt. Das Zitat von Benjamin Franklin, einer der Gründerväter der USA, bringt es auf den Punkt. „There never was a good war or a bad peace.” Dieses andere Denken führte zu landesweiten Protesten, die auf die gesamte westliche Welt übergriffen. Die althergebrachte Überzeugung bei den Verantwortlichen, dass die Durchsetzung von Interessen durch Krieg über abstrakte Demokratie-Begriffe zu legitimieren sei, wurde, zumindest für diesen Krieg, zerstört. Das hat sich inzwischen geändert, wie die Kriege der USA und ihrer Verbündeten in der Neuzeit belegen. Der Krieg in der Ukraine offenbart eine unfassbare, fast schon unheimlich anmutende Wiederauflage des Missbrauchs von Menschen. Unheimlich deswegen, weil weite Teile der Presse, die eigentlich frei sein sollte, sich vor den Kriegskarren spannen lässt und Millionen von Menschen sich gutgläubig missbrauchen lassen. Eine freie Presse würde die Öffentlichkeit nämlich darüber aufklären, dass das, was man Herrn Putin (zurecht) vorwirft, auch auf die USA und ihre Verbündeten zutrifft. Sie kennen die Untaten, die für Millionen von Menschen Not und Leid gebracht haben. Folter in Guantanamo Bay, Drohnen-Exekutionen in Asien und Afrika und Regime-Change durch Bombardierungen sowie militärische Invasion und Besetzung. Die Untaten scheinen weiterzugehen.
In der Ukraine sterben gerade Ukrainer und Russen in einem Krieg, der von der US-Regierung und ihren westlichen Verbündeten mit ähnlicher Werte-Arroganz gerechtfertigt wird, wie der amerikanische Vietnamkrieg. Dabei wird auf das Wohl der ukrainischen Bevölkerung wenig Rücksicht genommen. Weltweit leiden Menschen unter den ergriffenen Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Unser Land, eines der reichsten Länder der Erde, treibt in eine Energiekrise, die Millionen von Existenzen bedroht. Welche Folgen das für das körperliche und seelische Wohlergehen der Menschen hat, kann man erahnen, wenn man die Folgen der Corona-Lockdowns in Betracht zieht, die immer noch klein geredet werden. Monetäre Hilfsprogramme bleiben da Flickwerk. Sie zeugen von einer erschreckenden Unfähigkeit zur Empathie, für mich das Schlüsselmerkmal jeder verantwortungsvollen Menschenführung. Es ist zu befürchten, dass sich daran so bald nichts ändern wird, wie der Ukraine Krieg beweist.
Herr Putin beharrt auf seinen politischen Zielen und ist nicht bereit, militärisch nachzugeben. Die Ukraine und ihre Unterstützer, die USA und NATO-Europa einschließlich Deutschlands verweigern eine Verhandlungslösung und wollen den Krieg bis zum Sieg führen, koste es, was es wolle. Die Kosten, die sie bereit sind, zu zahlen, sind Leid und Leben von vielen Tausenden ukrainischen und russischen Soldaten sowie der Zivilbevölkerung in der Ukraine. Hinzu kommt die wirtschaftliche Not von Millionen von Menschen in Deutschland und in anderen Ländern der Erde. Die menschlichen und politischen Katastrophen, die mit dieser Not einhergehen, kann man nur erahnen. – Vielleicht stimmen Sie mir zu, wenn ich feststelle, dass sich etwas ändern muss. Mechanismen der Demokratie wie Wahlen oder das Anrufen von Gerichten helfen da wenig, wie die Vergangenheit gezeigt hat. Wenn man gegen Krieg war, hat man früher Grün gewählt. Jetzt sind sie in Führungsverantwortung, und was präsentieren sie uns? – Krieg. Der Versuch, gerichtlich die Einsatzführung des Drohnenkrieges in Afrika aus dem US-Hauptquartier AFRICOM (Africa Command) Stuttgart und seinem Luftwaffenkommando in Ramstein zu stoppen, wurde vom zuständigen Verwaltungsgericht zurückgewiesen. Das sei ein politisches Problem und gehöre in die Verantwortung Berlins. Das Urteil weist auf die eigentlichen Verantwortlichen für den millionenfachen Missbrauch von Menschen. Unsere von uns gewählten Politiker. Wir sollten sie an ihre Pflicht, dem Volk zu dienen, erinnern.
Getreu des Leitspruchs der Montagstreffen von DDR-Bürgern, die die Wende mit eingeleitet haben, - Das Volk sind wir“ – liegt meines Erachtens jetzt die Verantwortung bei den mündigen Bürgern. Ist es nicht ihre demokratische Pflicht, der Unfähigkeit zur Menschenführung unserer politischen Klasse entgegenzutreten? - Das Beispiel des amerikanischen Volkes während des Vietnamkrieges sehe ich als richtungsweisend. Es gilt, das unsägliche Denken, was immer wieder zum Missbrauch von Menschen führt, zu (zer)stören, eben durch politisches Fragging.
Die Presse, die damals ein solches Fragging angestoßen hat, ist leider heute ein Ausfall. Anstatt auf den Missbrauch von Millionen von Menschen hinzuweisen, kolportiert man die Demokratie-Schlagworte der Kriegsbefürworter und die Propaganda der ukrainischen Regierung. Da bleibt nur noch das Hirn der Bürger, Veränderung möglich zu machen. Wie bekommt man das informiert und kritisch? – Durch Bildung und Diskurse! – Wer soll sie an die Bürger herantragen? – Diejenigen, die jeden Tag Zugriff auf die meisten Menschen haben und die dabei sind, durch die Führungsunfähigkeit in Berlin in eine Krise unvorstellbaren Ausmaßes abzustürzen drohen. Es sind die Firmen und Unternehmen der Wirtschaft.
Wie wäre es, wenn man im Rahmen der Aus- und Weiterbildungsprogramme der Personalentwickler sogenannte Fragging- Kollegs einführen würde? – Ihr Zweck darf nicht Meinungsmache sein, sondern vielmehr das Herausbilden einer Kultur des kritischen Hinterfragens. In regelmäßigen Abständen könnten interessante und außergewöhnliche Referenten eingeladen werden, die in einem kurzen Input-Vortrag ein Thema problematisieren, was anschließend diskutiert wird. Alle erdenklichen Themen, die Sie übrigens in den Fächern unserer Gymnasien wiederfinden, weisen immer wieder auf Menschenführung hin, die immer bei sich selbst beginnt. Werden solche Kollegs die politische Führungsklasse ändern? – Wahrscheinlich nicht sofort. Aber sie könnten uns ändern. Ist das nicht der erste Schritt, um andere zu ändern?
Nachtrag
Nach der Uraufführung der Zauberflöte kam der anwesende Kaiser zu Mozart und sagte: Sehr brav, lieber Mozart, aber … zu viele Noten. – Vielleicht meinen Sie, dass dieser Beitrag auch „zu viele Noten“ hat. Ich kann nur antworten: Wenn ich eine weggelassen hätte, es wäre nicht ich gewesen.