

Discover more from Ulrich’s Newsletter
Unsere Kinder sind unsere Zukunft. Sie darauf vorzubereiten, ist DIE wichtigste Aufgabe der Erwachsenen. Eltern sind damit oft überfordert. Lehrer in der Schule haben damit “die Torte im Gesicht”. Die Vorgaben, die sie von den aufsichtführenden Behörden bekommen, konzentrieren sich vornehmlich auf das Erfüllen von Lehrplänen. Störungen durch “verhaltensoriginelle” Schüler begegnet man mit Disziplinarmaßnahmen. Damit glaubt man, abzuschrecken bzw. Einsicht bei den Störern zu wecken. Das Gegenteil ist oft der Fall. Die Kinder kuschen oder verhärten in ihrer Verweigerung. Was eigentlich wichtig wäre ist, Empathie anzusprechen. Das folgende Beispiel soll einen Weg zeigen, wie man Verweigerung verhindern kann.
Es ist mal wieder Donnerstag. Das Highlight der Woche steht mir bevor. Zwei Stunden Philosophie mit einer 8. Klasse und das in der 7. Und 8. Stunde des Schultages. Ein Gemisch aus Erschöpfung, Desinteresse, plötzliche pubertäre Hormonschübe und ein natürlicher Ekel gegen Schule sitzt in 20facher Ausfertigung vor mir. “Was machen wir heute” und „können wir einen Clip gucken” und “können wir heute etwas eher Schluss machen” begrüßen mich, wie jedes Mal. Es gibt Ausnahmen, zumeist Mädchen, aber deren Lerneifer geht meistens unter, wenn verhaltensoriginelle Jungen die Klasse übernehmen. Die Woche zuvor hatte ich sie „gekriegt“, als ich Johann Galtungs (norwegischer Friedensforscher) „Strukturelle Gewalt“ vorgestellt hatte. Als ich behauptete, dass die Schule eine Einrichtung sei, die strukturelle Gewalt ausübt, wurden sie neugierig. Mit der Definition konnten sie nichts anfangen, wie Sie vielleicht nachvollziehen können.
Strukturelle Gewalt umfasst gesellschaftliche, wirtschaftliche oder kulturelle Strukturen und Bedingungen, die Individuen oder Personengruppen daran hindern, ihre Potenziale und Möglichkeiten voll zu entfalten.
Ich hatte die Kinder gefragt, warum sie zur Schule gehen. Fast einhellig kam die Antwort zurück: Weil wir müssen. Es gebe ja schließlich eine Schulpflicht. Einige Mädchen zeigten sich einsichtig: Weil wir etwas lernen sollen. Ich trieb meine Polemik gegen die Schule weiter und zeige ihnen einen Gesetzestext aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB):
Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigenden Maßnahmen sind unzulässig.“ (§ 1631 Absatz 2)
Dann bat ich sie, einmal aufzuzählen, was sie täglich als „Gewalt“ empfinden würden. Jetzt hatten auch die letzten Feuer gefangen. Ich kam mit dem Anschreiben gar nicht nach. In der 9. Stunde Nachsitzen, Eintrag ins Klassenbuch, 5 Minuten vor die Tür geschickt werden, mit einer 5 bestraft werden, angeschrien werden, sarkastische Bemerkungen vom Lehrer, die Androhung eines formellen Tadels, Abfall aufheben müssen, den man gar nicht hingeworfen hatte, während des Unterrichts nicht auf die Toilette gehen dürfen, Handyverbote und Bestrafungen bei Nichteinhaltung und noch einiges mehr. Ich verkniff mir, den Kindern etwas von Leben in der Gemeinschaft, Disziplin, Schulordnung und pädagogischen Notwendigkeiten zu erzählen. Eigentlich wissen wir es ja (oder auch nicht?). Wenn man Kindern predigt, lernen sie nicht die Inhalte der Predigt, sondern sie lernen höchstens, wie man predigt. Es war ein spannender Unterricht gewesen. Die Kinder waren abgefeuert und ich auch. Ich lobte sie für ihr Mitmachen und ließ sie 5 Minuten eher gehen.
Nun war es wieder Donnerstag, und ich war gespannt, ob ich das Feuer des letzten Mal wieder entfachen könnte. Um sie „in Stimmung“ zu kriegen, zeige ich einen YouTube Clip aus dem Film „Club der Toten Dichter“. Sie kennen vielleicht die Szene. Der neue Englischlehrer, Mr. Keating (gespielt von Robin Williams), „verführt“ die Schüler dazu, die Einleitung aus einem Lehrbuch über Dichtung herauszureißen. Das kam an! Sie wollten den ganzen Film sehen. Ich vertröstete sie auf das Ende des Schuljahres. Dann zeigte ich ihnen ihre „Gewalt“-Liste vom letzten Mal und fragte sie, was ein Lehrer tun könnte, damit sie sich nicht mehr als Opfer fühlen. Es begann eine leidenschaftliche Diskussion, die natürlich von konkreten Beispielen aus dem eigenen Erleben mit „ungerechten“ Lehrern geprägt war. Erstaunlicher Weise kam immer wieder auch Kritik von Mitschülern am Verhalten des Erzählenden. „Da hast Du aber selbst Schuld gehabt, wenn der Lehrer so reagiert hat!“- Ich zeigte ihnen auf einer PowerPoint Slide den Begriff „Empathie“ und dessen Definition.
Empathie
Die Fähigkeit, sich in das Denken und Fühlen eines anderen hineinversetzen zu können.
Sie kannten den Begriff, wussten aber nicht so recht, wie sie ihn auf ihre Konfliktsituation in der Schule anwenden sollten. Die Schulsituation war für sie etwas Unveränderbares. Vereinfacht ausgedrückt: Sie sind die Störer, und die Lehrer haben die Macht. Ich fragte sie, warum sie stören bzw. die Mitarbeit verweigern. Die Antworten fanden untereinander vielfach Zustimmung aber auch Kritik. Der Unterricht ist langweilig. Sie verstehen den Lehrstoff nicht. Eine verhauene Klassenarbeit, die sie am Morgen zurückbekommen hatten. Gegen Ende eines Schultages Müdigkeit und Hunger. Konflikte untereinander und nicht zuletzt die Konflikte zuhause zwischen ihnen und den Eltern aber auch unter den Eltern. Ich ergänzte ihre Aufzählungen mit einem Empathie-Beitrag meinerseits. Ihr seid jetzt in der Pubertät. Die Hormone, die jetzt in euren Körpern die Kontrolle übernehmen, erzeugen Stimmungsschwankungen, die auch dazu beitragen, dass man zu einem Störenfried wird. Ich fragte sie, was ein Lehrer tun könnte, damit es für sie leichter wird. Ihre Antwort war einstimmig und einfach. Sie wünschten sich, dass Lehrer großzügiger sind und vor allem keinen Druck machen. Da meldete sich ein Junge, der bei Lehrern und sogar bei seinen Mitschülern als unverbesserlicher Klassenkasper verschrien war. Er gab mir eine Steilvorlage und meinte: „Wir sind ganz schön oft laut. Ohne Druck hat ein Lehrer doch keine Chance sich durchzusetzen.“ Allgemeines Nicken und zustimmendes Raunen zeigte, dass er getroffen hatte. Wisst ihr was, sagte ich, nächstes Mal werdet ihr in einer kleinen Arbeit aufschreiben, was ihr tun könnt, um Empathie für den Lehrer zu zeigen. Sofort kam die obligatorische Gegenfrage: Gibt es dafür eine Note? – Nein, sagte ich, eine Belohnung. – Was? – Schule, wie ihr sie euch wünscht. Ihr werdet eure Vorschläge an euren Lehrern ausprobieren.
Drehtür des Lernens
Kinder wollen geliebt werden … Lehrer auch