Eine orientalische Geschichte erzählt von einem Vater, der gestorben war und seinen drei Söhnen 17 Kamele hinterlassen hatte. In seinem Testament hatte er verfügt, dass der Älteste die Hälfte der Herde erben sollte, der Zweitälteste ein Drittel und der Jüngste ein Neuntel. Die Drei saßen ratlos vor ihrem Zelt und wussten nicht, wie sie eine gerechte Aufteilung der Kamele im Sinne des Testaments zustande bringen sollten. Da kam ein Mullah vorbeigeritten. Sie hielten ihn an, erzählten ihm von ihrem Problem und fragten um Rat. Der Mullah antwortete: „Ich gebe euch mein Kamel zu der Herde dazu. Dann habt ihr 18. Der Älteste bekommt die Hälfte. Das sind 9 Kamele. Bleiben 9 übrig. Der Zeitälteste bekommt 18 geteilt durch 3, gleich 6 Kamele. Bleiben 3 Kamele übrig. Der Jüngste bekommt 18 geteilt durch 9, gleich 2 Kamele. Bleibt eines übrig. Das ist meins. Dann stieg er auf und ritt davon. – Indem der Mullah so tat, als ob sein Kamel zur Herde gehörte, machte er eine Lösung im Sinne des Testamentes möglich. Diese kleine Geschichte ist nicht nur unterhaltend, sondern sie steht für ein Phänomen, dessen Nützlichkeit durch die Wissenschaften längst bewiesen worden ist und in denselben auf vielerlei Weise zur Anwendung kommt. Es ist das Prinzip der imaginären Annahme. Der deutsche Philosoph Hans Vaihinger hat darüber ein umfangreiches Werk geschrieben, das unter dem Titel Die Philosophie des Als ob 1911 erschienen ist. Darin wird an unzähligen Beispielen aufgezeigt, welche praktischen Auswirkungen imaginäre Annahmen haben können. Das folgende Beispiel aus der heutigen Zeit, das sicherlich ein Klischee bedient, verdeutlicht recht anschaulich, was gemeint ist.
Wenn Ihre Schwiegermutter Sie an den Rand der Verzweiflung bringt, weil diese ständig unangemeldet bei Ihnen zu Hause aufkreuzt, sich überall einmischt, jeden und alles kritisiert, immer das letzte Wort hat und so ihre Beziehung immer wieder unerträglich stresst, kann die „Als ob“-Philosophie helfen. Stellen Sie sich vor, dass die Frau einsam ist und unter dem Gefühl der Nutzlosigkeit leidet. Stellen Sie sich vor, dass sie Sie liebt und Sie und Ihre Familie mit Rat und Tat unterstützen möchte. Wenn Sie die Alltagsrealität mit Ihrer Schwiegermutter über diese Sichtweise neu konstruieren, haben Sie für sich eine imaginäre Brücke gebaut, über die Sie an das stressfreie Ufer gelangen können. Die Psychotherapie benutzt seit langem sehr erfolgreich die „Als ob“-Philosophie, um leidenden Patienten zu helfen, einen Weg aus ihrem Leiden heraus zu finden. Die Frage, welche Realität die Richtige ist, ist unwichtig. Man lässt die krank machende los und konstruiert sich eine neue, eine, die einem gut tut. In den Makro-Bereichen menschlicher Existenz wie der Wirtschaft oder der Politik scheint die „Als ob“-Philosophie entweder nicht bekannt zu sein oder als „irrational“ abgetan zu werden. Dabei böte sie gerade dort eine Möglichkeit, aussichtslose Denkwege zu verlassen, um eine Brücke zu neuen glücklicheren zu bauen. Ich denke hierbei an Krieg als „letztes“ Mittel der Politik, wie wir ihn gerade in der Ukraine erleben.
Was wäre, wenn die Regierungen der NATO-Länder und der Ukraine für einen Moment so tun würden, als ob es die Angst der russischen Führung vor einem NATO-Beitritt der Ukraine und damit vor einer US-Amerikanischen Bedrohung an Russlands Südgrenze tatsächlich gäbe. Könnte eine solche imaginäre Annahme nicht zu einer Angst nehmenden Beschwichtigung führen, die dem vermeintlichen Gegner die Möglichkeit geben würde, sein Verhalten zu ändern? -Eine Politik der Kommunikations- und Kompromissbereitschaft wäre möglich, die diesen Krieg endgültig beenden könnte. Wenn die Philosophie des „„Als ob““ im Kleinen funktioniert, warum nicht auch im Großen?! - Sie meinen, das geht nicht, weil man mit "bösen" Menschen nicht reden kann? - So ähnlich glaubten viele Menschen im Westen, als Willi Brandt eine Brücke zu den kommunistischen Führern in Moskau, Warschau und Ost-Berlin baute. Trotz Schießbefehl an der inner-deutschen Grenze und schlimmen Diffamierungen aus Reihen der Opposition blieb er unbeirrt bei seiner neuen Ostpolitik, die am Ende den Kalten Krieg beendet und zur Wiedervereinigung geführt hat. Inwieweit Brandt die "Als ob"-Philosophie kannte, weiß ich nicht. Sicher ist, dass er sein Denken verändert haben muss. Damit veränderte er die "bösen" anderen. Eine solche Denkweise geht über die „Als ob“-Philosophie hinaus und ist seit einigen Jahren in den Geistes- und Naturwissenschaften als Philosophie des Konstruktivismus bekannt.
Eine wichtige Kernaussage lautet: Realität ist eine Konstruktion, die wir ändern können, wenn sie uns nicht guttut. Für mich liegt in dieser Erkenntnis die wahre Bedeutung von Freiheit. Wenn sie sich mit dieser Philosophie auseinandersetzen und für sich und ihr Leben verinnerlichen und anwenden könnten, dann werden Sie mich vielleicht verstehen.