Die lieblose Gesellschaft – ein Blick in den Spiegel
„Kinder, die nicht geliebt werden, werden Erwachsene, die nicht lieben“. – Pearl S. Buck, US-Amerikanische Schriftstellerin (1892 – 1973)
Alle Jahre wieder ist in Deutschland Einschulungstag. Alle Jahre wieder sind Eltern mit ihren schulpflichtigen Kindern in der Schulaula versammelt und hören von der Schulleitung diesen Satz: Nun beginnt der Ernst des Lebens. Gottseidank wissen die Kinder noch nicht, was sie erwartet. Auch die Eltern, die es aus eigener Erfahrung wissen müssten, überhören die fürchterliche Botschaft dieses Satzes. Sie enthält nämlich die Ankündigung einer Vergewaltigung. Damit ist nicht die des Strafrechts gemeint, sondern die, die eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung von Kindern misshandelt. Der Psychologe Riemann nennt es in seinem Buch „Grundformen der Angst“ eine weiche Vergewaltigung,
Kinder werden in die Welt als Freie hineingeboren. Sie lieben bedingungs und kennen nichts anderes, als bedingungslos geliebt zu werden. Schon im Vorschulalter werden sie dann „eingebrochen“, werden zum Objekt von Regeln und Ordnung und der Notwendigkeiten, die das Leben ihrer Eltern in der Leistungsgesellschaft bestimmen. Sie werden erzogen, anstatt sie dabei zu begleiten, sich selbst zu entdecken. Diese weiche Vergewaltigung findet in der Schule seine Fortsetzung.
Das natürliche Lernen über Lust und Neugier wird stranguliert. Sie lernen, dass Regeln und Ordnung einhalten das Maß für positive Zuwendung ist. Die kann man steigern, wenn sie sich der Dressur des Lehrens hingeben und leisten. Viele Kinder kommen da unbeschadet durch. Trotz der systembedingten Vergewaltigungen gibt es Erwachsene im Elternhaus und in der Schule, die den Kindern die Liebe geben, die sie auffängt und (mit)machen lässt. Andere haben nicht das Glück und verweigern die Anpassung, werden zu Störern. Die ersteren werden es in ihrem Weg in die Gesellschaft leichter haben. Die letzteren beißen die Hunde, wenn sie nicht irgendwann doch noch die Kurve zur Anpassung bekommen. Was beide vereint ist das, was sie gelernt haben. Wer die Macht hat, hat recht, und Wertschätzung (Liebe) bekommst Du, wenn Du Dich anpasst und leistest. Die kleinen Geschichten in meinem Blog aus meiner Praxis als Vertretungslehrer erzählen davon. Sie mögen subjektive Einzelaufnahmen sein. Ein immer wiederkehrendes Verhalten von Erwachsenen in der Gesellschaft bestätigen sie. Hier passt das Zitat der amerikanische Schriftstellerin Pearl S. Buck.
„Kinder, die nicht geliebt werden, werden Erwachsene, die nicht lieben“.
Der Weg dorthin ist geprägt durch Selbstrettungsversuche. Ein Kind, das aus der Geborgenheit bedingungsloser Liebe herausgefallen ist, leidet. Das wissen wir nicht zuletzt aus der Hirnforschung. Einige werden krank und brauchen psychiatrische Hilfe. Das Gros entwickelt unbewusst Strategien, um sich zu stabilisieren. Die einen geben diese Lieblosigkeit weiter. Sie wollen beherrschen, sind ohne Empathie und behandeln andere als Objekt. Die extreme Form eines solchen Verhaltens nennt man Narzissmus. Andere akzeptieren für sich die durch den Liebesentzug empfundene Wertlosigkeit. Sie passen sich an, erdulden und machen sogar bei den schlimmsten Untaten pro-aktiv mit. Sie sind das ideale Volk für Narzissten. Autoritäre Systeme wie das der Nazis oder das in der DDR funktionierten auf der Wechselbeziehung dieser beiden Typen. Aber auch unsere Demokratie ist vor ihnen nicht gefeit.
Die Auseinandersetzungen um die großen Themen unserer Zeit (Corona, Klima und Krieg) zeigen im Verhalten von Politikern immer wieder narzisstische Züge. Das Gleiche gilt für den konformen Zustimmungsgeist bei Medien und in weiten Teilen der Bevölkerung. Auch der ist von Selbsterhöhung und Empathielosigkeit geprägt. Was alle verbindet, ist der Aberglaube, dass Wahrnehmung etwas mit Wahrheit zu tun hätte; dass Wissenschaften sowie Leistung und Fleiß alle unsere Probleme lösen könnten und dass Demokratie ein Synonym für Moral und Recht sei. Dieser Aberglaube hat bisher Millionen von Menschen Leben und Existenz gekostet oder unglücklich gemacht, und es wird so weiter gehen, ist zu befürchten, es sei denn, wir vertrauen auf Liebe, die bedingungslos ist. Wenn das gelingt, kann aus Aberglauben Gewissheit werden. Wir sollten es wagen, allein schon unserer Kinder wegen.
Sie fragen, wie das im Alltag gehen soll mit der bedingungslosen Liebe? – Das muss jeder für sich herausfinden. Nur so viel. Sie ist in jedem Menschen vorhanden. Deswegen heißt es bei uns ja auch „Menschenführung“. In einer Human-Gesellschaft sollte man Menschen und sich selbst nur durch Liebe führen können. Wer in der Kindheit, in der Schule und im späteren Leben bedingslose Liebe erfährt, der wird sich an die Regeln der Gemeinschaft halten, zuerst aus Liebe zu seinen Bezugspersonen, später dann aus Einsicht. Wie kommen wir da hin? – Es gibt nur einen Weg. Machen Sie den ersten Schritt.