Die Hybris von Muster-Knaben
Über die Vermessenheit und Selbstüberheblichkeit im Ukraine-Konflikt
Verbinden Sie die neun dargestellten Punkte mit 4 Geraden. Vielleicht kennen Sie diese und ähnliche kleine Denksportaufgaben, die man auf den Bierdeckeln einer berühmten Brauerei aus dem Friesischen finden kann. Eines haben alle gemeinsam. Man braucht meistens sehr lange, um auf die Lösung zu kommen, oder man schafft es überhaupt nicht. Fast alle beschleicht beim Nachdenken und Probieren immer wieder eine ohnmächtige Frustration. Der Grund dafür ist, dass es Probleme gibt, die mit unseren gelernten Denkmustern nicht zu lösen sind. Wenn Sie diese Aufgabe lösen wollen, müssen Sie das Muster verlassen. Das setzt voraus, dass Sie sich Ihrer Denkmuster bewusst sind. Wir alle haben Denkmuster.
Auch wenn sie sich beim Problemlösen manchmal als nachteilig erweisen, sind sie eine lebensnotwendige Einrichtung des Gehirns. Die ungeheure Signalmenge, die es in jedem Moment ausgesetzt ist, muss in eine Ordnung gebracht werden (das Wort „Rechnen“ bedeutet ursprünglich „in eine Ordnung bringen“). Ohne Ordnung oder Muster würde unser Gehirn driften. Wir wären geisteskrank. Musterbildungen des Gehirns erleichtern uns das Leben in vielerlei Weise. Denken Sie an die alltäglichen Morgenrituale, die bei vielen von uns im Halbschlaf ablaufen. Das Musterhafte und daher Unbewusste wird uns gewahr, wenn wir auf der Fahrt zur Arbeit uns nicht erinnern können, ob wir die Kaffeemaschine ausgeschaltet haben. Natürlich haben wir sie ausgeschaltet. Ohne die Verwendung von Mustern gäbe es auch keine Handlungssicherheit im Beruf. Der Controlling-Prozess in einem Unternehmen wäre ohne Muster nicht möglich. Das Beobachten und Messen immer wiederkehrender Abläufe soll einem Vorstand zu jeder Zeit Auskunft darüber geben, wie es dem Unternehmen geht und wo Steuer- und Regelungsbedarf besteht. Problematisch wird das Verwenden von Mustern als ultimatives Bewertungs- und Entscheidungskriterium, wenn menschliches Verhalten ins Spiel kommt. So versagen auch hoch dotierte Marketing-Firmen immer wieder bei dem Versuch, ein Konsum- und Kaufverhalten sicher vorherzusagen, obwohl das Klientel demselben Kulturkreis angehört, also von ähnlichen Denk- und Verhaltensmustern ausgegangen werden kann. Schwerer noch als das Erkennen von Denkmustern bei anderen ist das Bewusstsein für die eigenen. Das gilt ganz besonders für Führungspersonen in der Wirtschaft, in der Politik und beim Militär.
Wenn eine Firma am Rand des Bankrotts steht, heißt das nicht unbedingt, dass betriebswirtschaftliche Fehler gemacht wurden. Firmen können auch bankrott gehen, gerade weil nach bewährten Regeln der Betriebswirtschaft gehandelt wurde. Die gewohnten Denkmuster waren das Problem. Diese Ursache wird oft übersehen. Wenn der Erfolg ausbleibt, sucht man nach Fehlern und Schuldigen und begreift nicht, dass man schon wieder ein altes Denkmuster bedient. Man könnte dieses Verhalten als Hybris von Musterknaben bezeichnen. Als eine bemerkenswerte Ausnahme zeigte sich vor einigen Jahren ausgerechnet ein Spitzenexemplar der Musterknaben-Gilde, ein Militär. Anlässlich des britischen Truppenabzugs aus dem Irak im Jahr 2009 soll ein britischer General bemerkt haben: “Wir haben alles genauso gemacht, wie es in unseren Büchern steht, und sie hassen uns mehr als vorher!“ – Man hatte im Jahr 2003 als Verbündeter der USA in einem glorreichen Krieg den Irak besiegt und es am Ende nicht vermocht, dem Land Frieden zu bringen. Krieg und Befriedungsbemühungen hatten 1 Millionen Menschen das Leben gekostet und den Kriegsgewinnern 2 Billionen $. Der verantwortliche US-General Petraeus brachte das Versagen der Muster-Knaben auf den Punkt, als er feststellte, dass das Problem Irak nicht mit mehr Soldaten und Panzern zu lösen sei, weil das Problem zwischen den Ohren liege. Musterknaben sind das Problem und nicht der Gegner. Der Ukraine-Krieg beweist es gerade wieder.
Unter der Überschrift „Sicherheitspolitik“ pflegen Russen, Ukrainer und ihre Protegé im Westen wieder das gleiche Muster: Hybris, Drohen, Kämpfen, Gewinnen. Da fragt man sich mit Pete Seegers „When will they ever learn?“ – Wann werden Politiker endlich begreifen, dass das Muster „Sicherheit durch Krieg“ einer Zirkularität folgt, bei der der Output der einen Seite (Gewinnen) zum Input (Hybris) für die andere wird? – Auf diese Weise wird nämlich der Grundstein für den nächsten Krieg gelegt. Der zweite Weltkrieg war so ein „nächster“ Krieg, wie Winston Churchill in seinen Memoiren feststellte. Er nannte die Bedingungen, die die Gewinner des ersten Weltkriegs im Friedensvertrag von Versailles Deutschland aufgezwungen hatten, als töricht. Die hätten es den Nazis leicht gemacht, das deutsche Volk zu einer Hybris zu verführen, die jeder Kriegsbereitschaft vorangeht und anderen Unmenschlichkeiten den Weg bereitet. Hybris beim Verlierer ist aber nicht nur eine Folge törichten Gewinner-Verhaltens. Sie ist vielmehr auch Auslöser und Treiber jeden Krieges. Der Ukraine-Krieg beweist es.
Herr Putin will diesen Krieg gewinnen, weil er glaubt, im Recht zu sein. Es gilt, sein Russland vor einer erneuten Aggression aus dem Westen zu schützen. Napoleon und Hitler wurden erfolgreich zurückgeschlagen. Er ist entschlossen, die neu ausgemachte Bedrohung, USA und NATO, von Russlands Grenzen fernzuhalten. Herr Selenskyj will diesen Krieg gewinnen, weil er verhindern will, dass sein Land wieder von seinem übermächtigen Nachbarn Russland beherrscht wird, wie einst durch die russisch gelenkte Sowjetunion. Die USA und der Westen wollen, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Sie berufen sich auf Moral und Recht, wenn sie die Ukraine mit Waffen beliefern und Russland politisch und wirtschaftlich isolieren. Mit ein bisschen Bildung und Empathie sollte man jedes dieser Motive verstehen können. Sie unter einen Hut zu bringen ist jedoch unmöglich, solange Muster-Knaben das Sagen haben. Jeder der Protagonisten in diesem Krieg könnte ihn sofort beenden, wenn er begreifen würde, dass das alte Muster „Sicherheit durch Krieg“ untauglich ist, um eigene Interessen nachhaltig zu sichern und zu wahren. Die Geschichte des Krieges beweist es. In diesem Sinne sind nicht Verhandlungen der erste Schritt, um diesen Krieg zu beenden, sondern die Einsicht und der Mut, mit seinen Mustern zu brechen.
Der Hirnforscher Gerald Huether sagte einmal: Wir wissen eigentlich, was zu tun ist. Wir wissen nur nicht wie. Mein bescheidener Vorschlag wäre, dass die Vereinten Nationen einen Moderator ins Feld schickt, der von allen Parteien als integer und weise anerkannt wird. Seine Aufgabe wäre nicht, eine Lösung des Konflikts herbeizuführen, sondern zu einem Musterbruch im Denken zu ermutigen. Wie sagte noch der US-General Petraeus? – Das Problem löst man nicht mit mehr Soldaten und Panzern, weil das Problem zwischen den Ohren liegt.