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Die Gewalt im Palästina-Konflikt spiegelt europäische Gewalt
Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten. - Helmut Kohl
Was den Bürgern Israels durch den verbrecherischen Überfall der Hamas angetan wurde und was jetzt den Palästinensern durch die Gegenreaktion der Israelis angetan wird, entzieht sich jeder Vorstellungskraft. Die täglichen Beiträge in den Medien über Gewalt und Leid und die nie endenden Diskussionen über Ursachen, Schuld und Zukunftsaussichten bergen die Gefahr der Abstumpfung. Man kann es nicht mehr hören und sehen und zappt weg. Mir ist bewusst, dass meine Beiträge zu dem Thema eine ähnliche Erschöpfung bewirken können. Im Sinne des Zitats von Helmut Kohl mag ich sie nicht aufgeben und möchte im Folgenden eine kurze geschichtliche Begründung geben, warum die momentane Politik der Bundesregierung im Palästina-Konflikt auf einem Auge blind ist. Palästinensische Gewalt und die Gegenreaktion der Israelis spiegeln nämlich europäische Gewalt.
“To break the will of the people” (den Willen der Bevölkerung brechen) war die Absicht der Erfinder der Flächenbombardements auf zivile Städte. US-General William Mitchel und der italienische Luftkriegsphilosoph General Giulio Douhet waren in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts überzeugt, dass Terrorangriffe aus der Luft in wenigen Tagen die Bevölkerung des Feindes dazu bringen würde, sich zu ergeben. Sie würden ihre Despoten in die Wüste zu schicken und um Frieden zu bitten. Briten und Amerikaner haben es im 2. Weltkrieg vergeblich versucht. Die deutsche Bevölkerung hat nicht aufgegeben, sondern bis zum bitteren Ende durchgehalten.
Der britische Luftkrieg-Stratege, der von dieser Strategie überzeugt war, war Wing Commander (Oberstleutnant) Arthur Harris von der Royal Air Force. Der war in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts Kommandeur der RAF-Luftkriegsstaffeln in Palästina. Die Region war 1919 im Versailler Friedensvertrag den Briten als Protektorat überlassen worden (früher hieß es Kolonie). Wenn arabische Stämme es wagten, sich gegen die britische Herrschaft aufzulehnen, schickte Mr. Harris seine Kampfstaffeln. Durch Bombengriffe und Maschinengewehrattacken auf deren Dörfer zwang er die aufmüpfigen Araber in die Unterwerfung. Terror aus der Luft funktionierte. Ein Pilot der RAF meinte damals zu dieser rabiaten Vorgehensweise: “The Arabs need a heavy hand!” (Die Araber brauchen eine strenge Hand). WingCdr Harris übernahm die positiven Erfahrungen aus Palästina in sein zukünftiges Denken und Handeln und machte Karriere. Während des 2. Weltkriegs war er als Air Marstall der RAF für den strategischen Luftkrieg gegen Deutschland zuständig. Seine Bombardements auf deutscher Städte brachten ihm später den Namen „Bomber-Harris“ ein.
Das sind Geschichten von gestern, glauben Sie? - Was haben die mit den Ereignissen in Palästina heute zu tun, fragen Sie? - Der Verdacht des vergleichen wollen drängt sich auf. Er ist absurd. Der Holocaust, die methodische Vernichtung eines ganzen Volkes, ist in seiner Schrecklichkeit mit keinem anderen geschichtlichen Ereignis zu vergleichen, darf man nicht vergleichen. Das ist eine Erkenntnis, die gerade uns Deutschen klar sein muss, wenn wir an Israels Sicherheitspolitik Kritik üben. Diese Kritik wird meines Erachtens sogar zur Pflicht, wenn man erkennt, dass Härte gegenüber den Palästinensern ein zweischneidiges Schwert ist. Die Fehler der Briten bei der „Colonial Air Control“ in ihren Kolonien zwischen den Weltkriegen und die Fehleinschätzung der Auswirkungen von Massenbombardierungen auf deutsche Städte im 2. Weltkrieg werden zwar von Historikern zweifelsfrei anerkannt, bei den Politikern von heute scheinen sie nicht angekommen zu sein.
Wenn diese Fehler jetzt wiederholt werden, ist zu befürchten, dass es keinen Frieden in Palästina geben wird. Es kann nur noch schlimmer kommen. Das Ignorieren von palästinensischen Befindlichkeiten - die Abneigung gegen die einstige britische Kolonialmacht ist nahtlos auf eine Abneigung gegen Israel übergesprungen - und das Setzen auf die Allmacht der Luftwaffe bringen keine Sicherheit, sondern gefährden das, was wir erreichen wollen. Ein Israel in sicheren Grenzen und in friedlicher Koexistenz mit seinen arabischen Nachbarn. Israel braucht jetzt keine Bestätigung seiner Gewaltmaßnahmen, sondern einen dringenden Rat zur Mäßigung. Einen solchen zu geben, verlangt Geschichtsbewusstsein und noch viel mehr Persönlichkeit. Am Kohl-Zitat, ins Positive formuliert, kann man sie erkennen. Wer die Vergangenheit kennt, wird die Gegenwart verstehen, und wer die versteht, der will Zukunft mitgestalten. Ob es solche Politikerpersönlichkeiten bei uns gibt, muss vor dem Hintergrund der aktuellen Politik bezweifelt werden.