

Discover more from Ulrich’s Newsletter
Der Mensch ist zur Liebe verdammt
Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Antoine de Saint-Exupéry
Der chinesische Philosoph Mengzi schrieb vor 2400 Jahren: Stell Dir vor, Du siehst ein kleines Kind am Rande eines Brunnens. Wer wird nicht sofort zum Brunnen stürzen und das Kind zurückreißen? – Der deutsch-amerikanische Philosoph Hans Jonas gibt ein ähnliches Beispiel. Du siehst im oberen Stockwerk eines Hauses einen strampelnden Säugling auf dem Sims eines offenen Fenster liegen. Wer würde nicht sofort ins Haus stürzen, um den kleinen Menschen vom Fenster wegzuholen? – Der Philosoph der Moderne und der Taoist des 4. Jahr. vor Chr. kommen zu derselben Überzeugung. Ethisches Handeln in Form von spontanem Mitgefühl ist in jedem Menschen präsent. Es braucht kein Nachdenken, um so zu sein. Der Buddhismus führt diesen Gedanken weiter. In diesem spontanen Mitgefühl zeigt sich für einen kurzen Moment Ichlosigkeit. Der Mensch verhält sich liebevoll gegenüber dem anderen, nicht weil er nachgedacht hat, sondern weil das Wesen von Menschsein Liebe ist. Im Folgenden möchte ich Ihnen näherbringen, dass Liebe nicht nur ein Wohlfühl-Beiwerk in unserem Leben, sondern eine wissenschaftlich begründbare Notwendigkeit ist, wenn wir überleben wollen, menschenwürdig überleben wollen.
Der chilenische Biologe und Philosoph Francesco Varela hat die uralte buddhistische Weisheit aufgenommen und sie mit seinen naturwissenschaftlichen Forschungen und Erkenntnissen zu einem schlüssigen Ganzen verknüpft. In dem Buch „Baum der Erkenntnis – Die biologischen Wurzeln des Erkennens“, das er zusammen mit seinem Kollegen Umberto Maturana geschrieben hat, kommen beide zu dem Schluss, dass ohne Liebe der Mensch biologisch nicht überleben kann. Von Geburt an ist er auf andere angewiesen. Das gilt nicht nur für die Fortpflanzung, sondern im Besonderen für das Leben in der Gemeinschaft, in der Familie, in der Arbeitswelt, im Politischen bis hin zu internationalen Beziehungen. Kulturelle Normengebungen wie Fairness und Rücksichtnahme oder im Politischen, demokratische Verfassungen, internationales Recht und Menschenrechte sind im Sinne der beiden Chilenen Heuchelei, wenn sie nicht vom Geist der Liebe durchdrungen sind. Die Kriegspolitik des Westens gegenüber Russland mit all ihren tragischen Konsequenzen ist ein erschütterndes Beispiel für diese Lieblosigkeit. Die letzte Konsequenz wäre nämlich ein Atomkrieg. Gibt es ein schlagenderes Beispiel für diese Erkenntnis? – Wir brauchen einander, wenn wir als Species überleben wollen. Ich möchte Ihnen im Folgenden Varelas wissenschaftlich/philosophischen Gedankengang vorstellen.
Er stellt fest, dass Liebe, so wie sie Jesus Christus gelebt und gepredigt hat und auch von anderen Religionen ins Zentrum des Menschseins gerückt wird, nicht nur eine religiöse Spielart ist, sondern essenziell für unser biologisches Überleben ist. Für ihn ist Liebe das universelle Wesen von WIR. Das ICH ist ein „Unfall“ der Evolution. Er beginnt mit dem Durchtrennen der Nabelschnur. Varela benutzt einen systemtheoretischen Denkansatz und sagt: ICH, Selbstbewusstsein, ist eine Emergenz des WIR. Zur Erinnerung. Mit Emergenzen bezeichnet man Eigenschaften eines Systems, die nicht in den einzelnen Systemkomponenten enthalten sind, sondern erst durch ihr Interagieren entstehen. Ein erklärendes Beispiel ist „La Ola“. In einem vollbesetzten Stadium beginnen Menschen im Rhythmus aufzustehen, die Arme hochzuwerfen und sich wieder hinzusetzen. Wenn der Rhythmus in Gang kommt, entsteht die Welle. Sie existiert in keinem der Zuschauer. Sie ist eine Emergenz, ein Phänomen, dass durch das Interagieren entsteht. In diesem Sinne benutzt Varela das Bild des Buddhismus, um das ICH zu erklären. und sagt: WIR ist ein System, das aus Liebe besteht (Zum Überleben brauchen wir einander). Die Systemkomponenten sind die durch Geburt materialisierten Menschen. Mit dem Durchtrennen der Nabelschnur tritt der kleine Mensch in Interaktion mit Anderen (Mutter, Vater, Geschwister u.a.). In der Sprechentwicklung lässt sich die Emergenzausprägung des ICH gut erkennen. Mit 2 ½ benennt sich das Kleinkind noch mit Vornamen. Mit 3 ½ unterscheidet es zwischen ICH und DU. Ein Selbst-Bewusstsein entwickelt sich, das im weiteren Leben durch unzählig viele Interaktionen weiter geformt wird. Wir formen uns immer gegenseitig, manchmal bewusst, meistens unbewusst. Das störrische Kind, der uneinsichtige Partner, der unausstehliche Chef, der aggressive politische Gegner, ja und auch Herr Putin, wir haben sie miterschaffen. Es entstehen Wellen, die uns am Ende umbringen können.
Die Trennung des ICH vom WIR ist erst einmal ein augenscheinlich physisches Phänomen. Sie wird durch unsere Kultur des Wettbewerbs, Messens und Vergleichens nachhaltig und nachteilig verstärkt. Das WIR reduziert sich im Zeitgeist der Postmoderne meistens nur noch auf Optimierungsmaßnahmen von Funktionsprozessen (Team-Building etc). Dies widerspricht nicht nur dem universellen Wesen des Menschseins, sondern ist unklug und kurzsichtig, lassen wir doch die größte Kraft, die uns allen innewohnt, ungenutzt. Liebe. In der Geschichte und nicht zuletzt im Alltag finden wir Beispiele, in denen Menschen über sich hinausgewachsen sind, wenn sie als Gemeinschaft im Sinne des universellen WIR agiert haben. Dazu gehören Leuchtgestalten wie Mahatma Gandhi genauso wie der Lehrer, der Lehrplan und Schulordnung außen vorlässt und das Stören eines Schülers mit Liebe begegnet.
Hier sehe ich die Schlüssel-Verantwortung von Menschenführung, in der Familie, in der Schule, am Arbeitsplatz und in der Politik: Das Zusammensein zwischen Menschen so zu gestalten, dass das Wesen unseres WIR, Liebe, wiederentdeckt wird. Nur dann werden wir den inneren Frieden bekommen, ohne den ein äußerer nicht möglich ist. Das ist kein esoterisches Geschwätz, sondern das Ergebnis ganzheitlichem naturwissenschaftlichen Denkens. Und jetzt werden Sie fragen: Wie geht das? – Es ist ganz einfach. Seien sie liebevoll.