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In dem „Buch des Sängers“ seines Werkes „West-Östlicher Diwan“ schreibt der große deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe folgende Zeilen:
Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:
Die Luft einziehen, sich ihrer entladen;
jenes bedrängt, dieses erfrischt;
so wunderbar ist das Leben gemischt.
Du danke Gott, wenn er dich presst,
und dank ihm, wenn er dich wieder entlässt!
Mit dem Attribut „groß“ soll hier nicht nur die Universalität der Weisheiten Goethes für den einzelnen Menschen gehuldigt werden. Sie sind auch immer wieder auf Gemeinschaften von Menschen anwendbar. Das vorliegende Goethewort passt in erschreckender Weise auf die Kultur des Westens. Mit Kultur meine ich Denk- und Handelsweisen - das Modewort ist Paradigma -, die in Politik, Wirtschaft und mehrheitlich in unserer Gesellschaft als „richtig“ und „normal“ angesehen und gerechtfertigt werden. Der Leser mag über das Goethe-Wort zum richtigen Atmen für sein eigenes Leben reflektieren. Der Ukrainekrieg und die Selbstgefälligkeit, mit der bei uns dieser Krieg als Parteigänger der ukrainischen Sache gerechtfertigt wird, veranlassen mich zu einer anderen Betrachtungsweise, die auch in dem Goethe-Zitat zu finden ist. Im Folgenden soll dargelegt werden, dass alle Kriege der Neuzeit Konsequenzen des „falsch Atmens“ sind.
Das Wirtschaftssystem des Westens basiert auf kapitalistischem Denken. Glaubensbekenntnisse sind Wachstum und Profit. Wir atmen die ganze Zeit ein. Und da zu viel nicht genug ist, müssen wir immer noch mehr einatmen. Tragischer Weise haben wir vergessen, wie man ausatmet. Unser Wirtschaftssystem ist asthmatisch. Das ist pathologisch. Krieg ist die extremste Form des noch-mehr-haben-Wollens, des Einatmens. Krieg ist pathologisch. Was braucht es, um auszuatmen? – Eigentlich ist es ganz einfach: Sich auf die eigenen Werte besinnen und ihnen vertrauen und seine Energie darauf verwenden, sich global zum Wohle aller einzusetzen. Wie schaffen wir es, aufgeklärte Menschen dazu zu bewegen, nicht immer nur einzuatmen? - In dem man an ihren Verstand appelliert und ihnen das Fehlerhafte ihres Denkens aufzeigt. Es sind
1. Der unerschütterliche Glaube, dass wirtschaftliche Sicherheit und Unabhängigkeit nur durch Kontrolle über andere Regionen der Welt zu sichern sei.
2. Das selbstgefällige Vorschieben von Moral und Recht als Rechtfertigung von Krieg und die Weigerung zu sehen, dass der eigentliche Zweck von Krieg das Sichern und Vorantreiben von Wirtschaftsinteressen ist.
Kritiker des Westens heben immer wieder hervor, dass die Ursache von Kriegen im überkommenen geostrategischen Denken zu finden sei. Man sei überzeugt, dass Sicherheit (militärische und wirtschaftliche) für das Land und dessen Bevölkerung nur dadurch zu gewährleisten sei, in dem man über bestimmte Regionen der Erde Kontrolle zumindest aber Einfluss ausübt. So waren Seemächte von je her bestrebt, die Gegenküsten zu kontrollieren. Vom späten Mittelalter bis zum Ende des 2. Weltkriegs war englische, später britische, Sicherheitspolitik davon geprägt, auf dem europäischen Kontinent eine Machtbalance (Balance of Power) herzustellen. Jeder Versuch einer europäischen Macht, diese Balance zu seinen Gunsten zu verschieben, stieß auf eine kriegerische Bündnispolitik Großbritanniens. Zuerst Frankreich später dann Deutschland waren die ausgemachten Gegner, die in mehreren Kriegen mit Millionen von Opfern immer wieder niedergerungen wurden. Wenn Sie die Kriegsziele der jeweiligen Kriegsgegner recherchieren, werden Sie feststellen, dass es immer nur um Wirtschaftsinteressen ging, die Sicherung und Kontrolle von Märkten, Ressourcen und Handelswegen. Die militärischen Siege entpuppten sich als Pyrrhus-Siege. Der erste Weltkrieg mit 15 Millionen Toten läutete das Ende des britischen Empires ein, der zweite Weltkrieg mit 60 Millionen Toten das Ende militärischer Kontroll-Strategien der Europäer. Das fortwährende Einatmen, denn „zu viel ist nicht genug“, hatte zum Atemstillstand geführt. Die Chance zum Ausatmen kam mit dem europäischen Einigungsgedanken. Versöhnung, dann die wirtschaftliche und später die politische Vereinigung Europas waren von Pazifismus geprägt. Europas Einfluss auf andere Regionen der Welt wurde nicht mehr vom militärischen Kontroll-Gedanken bestimmt, sondern beispielgebend vom friedlichen Miteinander. Globalisierung nach dem kantischen kategorischen Imperativ. „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ – Leider ist es dann anders gekommen.
Mit der Auflösung der Sowjet Union und der Beendigung des Kalten Krieges durch Michail Gorbatschow übernahmen die Weltmeister im Einatmen, die USA, die Kontrolle über die Welt. Krieg wurde wieder ein opportunes Mittel der Politik. Hatten die Mächte der alten Welt ihre Kriege unverhohlen mit nationaler Überheblichkeit begründet („Right or wrong, my country“ und „am deutschen Wesen soll die Welt genesen“), rechtfertigt man sie heute mit Moral und Recht („Humanitarian Intervention“, „Responsibility to Protect“ und dem Recht auf Selbstverteidigung). Die Kriege, die die USA und ihre NATO-Verbündeten nach 1990 geführt haben, strafen diese Ansprüche mit Hohn. Militärische Interventionen in Libyen, im Irak, in Afghanistan so wie Drohnen-Exekutionen in Asien und Afrika haben Millionen von Menschen Tod und Leid gebracht. Sie haben noch nicht einmal ihren eigentlichen Zweck erreicht. Die Kontrolle über wirtschaftswichtige Regionen in dieser Welt. Der geopolitische Kontrollwahn geht indes unbeirrt weiter. Wirtschaftsinteressen sind, wie soll es auch anders sein, der Treiber. Der Ukraine-Krieg ist der letzte Akt in diesem unmenschlichen Stratego-Spiel. Die Versuche, Kontrolle über die Ukraine zu bekommen – hier durch NATO-Mitgliedschaft, dort durch militärische Besetzung -, die politische und physische Zerstörung von Nord Stream 2, die angelaufene Belieferung Europas mit amerikanischem Fracking-Erdgas und das unerträgliche Beschwören von Moral und Recht zur Rechtfertigung von Krieg und damit dem Tod und Leiden von Tausenden von Menschen, sind Symptome einer Krankheit, die unser Wirtschaftssystem in die Welt gebracht hat. Asthma.
Wir müssen aufhören, immer nur einatmen zu wollen und lernen auszuatmen. Das gilt nicht nur für die Macher dieser Welt, sondern für jeden einzelnen von uns. Was zu tun ist, muss jeder für sich entscheiden. Das Goethe-Wort könnte dazu Leitlinie sein.