Rosie, die Ehefrau meines kanadischen Lehrgangskameraden am Air War College der US Air Force, wagte es auszusprechen, was die meisten internationalen Offiziere im Lehrgang dachten. Dazu muss ich kurz erklären, dass bestimmte Seminare in der US-amerikanischen Generalstabsausbildung auch für Ehegatten zugänglich waren. Rosie hatte sich für das Nuklear-Seminar (Atomwaffen, Politik, Strategien) eingeschrieben und wurde gleich in der ersten Stunde der Seminarreihe heftig gestresst.
In der Einleitung stellte der Seminarleiter fest: „Wir Amerikaner sind doch eigentlich ein friedliebendes, unkriegerisches Volk!“ Meine US-Kameraden, darunter auch der Kommandant eines Atom U-Bootes, nickten zustimmend. Der Professor fuhr mit seiner Einleitung fort und präsentierte ein paar Fakten aus der Geschichte. Da explodierte Rosie. Ihre Hand schnellte hoch. Sie bat um das Wort, was sie natürlich sofort bekam. „In mir war gerade ein Kampf zwischen Höflichkeit und Ehrlichkeit“, sagte sie. „Ich habe mich für Ehrlichkeit entschieden und möchte ihrer Feststellung, die sie eingangs über Amerikaner als friedliebend und unkriegerisch gemacht haben, widersprechen.“ Dann machte sie eine kurze Pause, als wollte sie es sich nochmal überlegen. Dann sagte sie: „Ich finde, dass Sie das gewalttätigste Volk der Welt sind (“… you are the most violent people on earth“)! – Die Diskussion wurde sehr emotional geführt, ging am Ende aber doch versöhnlich aus. In der Einsicht, dass es die eine Wahrheit nicht geben kann, beharrte man nicht auf seiner Position, sondern konzedierte dem anderen seine. Dieser Geist, den ich bei meinen amerikanischen Kameraden immer wieder besonders geschätzt habe, hat es nie bis Washington geschafft, so scheint es. Der Ausbruch des Ukraine-Kriegs ist der letzte Beweis dafür.
Bei den Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland vor Beginn des Krieges gab es keine Mäßigung mit dem Ziel, Frieden zu schaffen. Die USA und ihre Verbündeten haben dafür gesorgt, dass die Ukraine russische Befindlichkeiten ignoriert. Im Angesicht des damals seit Wochen stattfindenden russischen Truppenaufmarsches an der ukrainischen Grenze musste ihnen klar gewesen sein, dass das Krieg bedeuten würde. Das lässt nur einen Schluss zu. Der Ukraine-Krieg ist im amerikanischen Interesse. Meine kanadische Freundin am Air War College schien mit ihrem Frontalangriff auf US-amerikanische Gewaltbereitschaft recht behalten zu haben.
Dieses Mal findet der amerikanische Krieg aber nicht irgendwo auf einem anderen Kontinent statt, sondern in Europa, wo wir doch alle dachten: Krieg in Europa? – Nie wieder! – Seit über einem halben Jahr kostet dieser Krieg Tausenden von jungen Soldaten das Leben. Ein Land wird zerstört. Für Generationen wird Hass gesät. Der nächste Krieg ist vorprogrammiert, wenn der jetzige nicht zu einem alles vernichtenden Atom-Krieg eskaliert. In diesem Sinne ist es ein europäischer Krieg, sind wir Europäer in der Pflicht, Frieden zu machen (übrigens: Russen sind auch Europäer!). Das geht nicht ohne die USA. Sie haben hoch gepokert und wollen nicht verlieren. Die Amerikaner können wir aber nur mitnehmen, wenn wir sie verstehen. Im Zwischenmenschlichen sagt man, Empathie haben. Dieser Artikel soll ein kleiner Beitrag dazu sein.
Hinweise auf die Ursachen US-amerikanischer Gewaltbereitschaft finden wir in der Geschichte und der Kultur des Landes. Man trifft sie in allen Sphären von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft an. Im Äußeren: Pro-aktive Kriege gegen Mexiko 1846-1848, gegen Spanien 1898, in Vietnam 1965-1973, gegen den Irak 1991 und 2003, in Afghanistan 2001 - 2021, in Libyen 2011, in Syrien 2014 – heute und in diesen Monaten als Unterstützer und Scharfmacher im Ukraine-Krieg. Und im Inneren: Ausrottung der Indianer im 19. Jahrhundert, Bürgerkrieg 1861-1865, Rassentrennung bis 1964, Polizeigewalt, Gerichtsgewalt in Form der Todesstrafe und nicht zuletzt in den subtilen Formen von sozialer Gewalt, bei der Armut eine der schlimmsten davon ist.
Kriege und Formen gesellschaftlicher Gewalt wurden und werden in den USA bis heute immer wieder mit konkreten Ursache/Wirkungs-Mustern legitimiert. Ursache war und ist immer das oder der Böse, Wirkung ist die (oft konstruierte) Bedrohung, die von ihm ausgeht. Dieses Denken lässt die treibende Kraft für US-amerikanische Gewaltanwendung erkennen. Es ist das gefährliche Gemisch aus Sendungsbewusstsein und Interessen. Beide „Zutaten“ haben einen gemeinsamen Ursprung in den Anfängen amerikanischen Geschichte. Als Sekundanten für mein Argument möchte ich den prominenten US-amerikanischen Theologie-Professor Charles Speel ins Feld führen.
Ein zentrales Thema seiner Studien, Veröffentlichungen und Vorträge war die Dissonanz zwischen Puritanern und Yankees in der US-amerikanischen Gesellschaft. Beide Menschentypen gab es unter den Pilgervätern, die 1620 bei Cape Cod an der Ostküste Amerikas an Land gingen. Die Puritaner waren nach innen gekehrt fromm, gottesfürchtig, demütig, bescheiden und sendungsbewusst. Einige von ihnen lebten nach außen gewandt. Sie waren geschäftstüchtig und galten als anständig, zielstrebig, ehrgeizig und schlau und verkörperten das, was man im Laufe der Geschichte später als „Yankee“ bezeichnete. Sie störten anfänglich das Selbstverständnis der Puritaner. Um diese Ambivalenz zwischen Gläubigkeit und Geschäftigkeit aufzulösen, schuf man eine puritanische Weltanschauung, die „Technologia“. Sie sollte die Welt der Wissenschaften und hinreichenden Ursachen mit der Welt vereinigen, in der es nur eine Ursache für alles gibt: Gott. Diese Idee einer amerikanischen Gesellschaft ist meiner Beobachtung nach schon sehr früh aus dem Ruder gelaufen. Ursache liegt, vereinfach ausgedrückt, im Vertauschen eines Adjektivs.
Bei den „Yankees“ wird bis heute immer wieder „anständig“ durch „sendungsbewusst“ ersetzt. Das fällt innerhalb der Gesellschaft nicht auf, weil eigene Wissenschaftler, Juristen und nicht zuletzt Medienvertreter reflexartig die Alibis dafür liefern, „das Böse“ in der Welt bekämpfen zu wollen. Dabei sind Gott, die Unabhängigkeitserklärung, der Treue-Schwur auf Nation und Fahne (Pledge of Allegiance) und nicht zuletzt die Menschenrechte moralische Güter, die doch erst durch die innere Zuwendung im Menschsein, eben in der Reinheit des christlichen Glaubens (Puritaner!) Sinn und Wert bekommen. Sie wurden und werden immer wieder von „Yankees“ missbraucht, um im Außen die Durchsetzung von Interessen zu legitimieren. Man will der Welt, der eigenen Bevölkerung und nicht zuletzt auch sich selbst suggerieren, dass das eigene Tun deswegen gut und richtig ist, weil es Gott gewollt ist. Das ist kein kognitiver Akt, sondern eine unterschwellige Latenz im Yankee-Sein. Dieses Sendungs-Unter-Bewusstsein halte ich für die eigentliche Ursache für das „gewalttätige“ Amerika. Mit diesen Ausführungen hätten wir den Empathie-Teil gelöst. Wie soll denn nun das „Mitnehmen“ beim Frieden schaffen ohne Waffen geschehen? – Auch bei der Antwort zu dieser Frage hilft Empathie, nämlich mit dem amerikanischen Volk.
Umfragen, die vor dem Irak-Krieg im Jahr 2003 gemacht wurden, ergaben, dass die Bevölkerung mehrheitlich gegen den Krieg war, sollten die europäischen Verbündeten nicht mitmachen. Das Bemühen der US-Regierung um Koalitionspartner vor Beginn eines jeden Waffenganges nach 1990 ist ein weiteres Indiz für den Einfluss, den Europa auf amerikanische Kriegspolitik haben könnte. Der sollte der amerikanischen Handlungsmaxime „Gut gegen Böse“ eine europäische des „anständig bleiben“ entgegensetzen. - Sie fragen, wie das geht? – Die Antwort finden Sie u.a. bei Kant, bei Gandhi und in der Bergpredigt. Wenn Sie zum Lesen keine Zeit haben, fragen Sie einfach nur Ihr Gewissen. Sollten Sie dann immer noch Zweifel haben, fragen Sie Ihre Kinder.