Admiral Nelson und Selbstorganisation
Was Ihr Fußballverein und Ihre Firma aus der Seeschlacht bei Abukir lernen können
Sie glauben, jetzt kommt eine Abhandlung über Kriegsgeschichte? – Sie wollen wegklicken, weil Sie so etwas nicht interessiert? – Ich möchte Sie einladen weiterzulesen. Das heißt, wenn es Sie interessiert, warum Ihr Lieblingsfußballverein absteigt oder warum Ihre Firma Pleite geht.
Die meisten werden sich wahrscheinlich noch erinnern, dass Admiral Nelsons Denkmal in London auf dem Trafalgar Square steht. Warum hat man ihm ein Denkmal gesetzt? – Weil er am 21. Oktober 1805 mit einer Flotte der Royal Navy die französisch-spanische Flotte Napoleons am spanischen Kap Trafalgar vernichtend geschlagen hat. - Nelsons besondere Führungsqualitäten offenbarten sich in der besonderen Beziehung zu seinen Untergebenen. Nach der glorreich gewonnenen Seeschlacht bei Abukir (1798) bezeichnete er sich und seine Kapitäne als „Band of Brothers“. Was diese Gemeinschaft geformt und ausgemacht hat, ist universell. Die Gesetzmäßigkeit, die dahintersteht, würden wir heute mit „Selbstorganisation“ bezeichnen. Sie ist Bestandteil der Systemtheorie und das Verbindende zwischen Nelsons „Band of Brothers“, Ihrem Fußballverein und Ihrer Firma. In diesem kleinen Artikel möchte ich Ihnen die Systemtheorie kurz vorstellen, um sie dann auf die Seeschlacht bei Abukir anzuwenden. Dabei geht es mir nicht so sehr um eine akademische Weiterbildung, sondern um die Weitergabe meiner wichtigsten Erkenntnis nach über 30 Jahren Führungserfahrung als Offizier. Wer Menschen führen will, muss selbst ein guter Mensch sein.
Systemtheorie ist eine von den Wissenschaften anerkannte erklärende Sichtweise auf Phänomene unserer Welt. Per Definition besteht ein System aus Komponenten, die durch Kommunikation und Interaktion miteinander verbunden sind. Ein Auto wäre so ein System, das aus den Komponenten Karosserie, Fahrwerk und Motor besteht. Systeme gelten als operationell geschlossen. Bis auf Energie brauchen Systemelemente für ihre Operationen keine Inputs von außen. Sie reagieren immer nur aufeinander bezogen. Ihr ultimatives Ziel ist funktionale Stabilität oder, auf lebende Systeme angewendet, Überleben. Das gilt für einen Menschen mit seinem Körper, seinen Organen und seinem Nervensystem genauso wie für eine Firma mit Vorstand, Belegschaft und Produkt.
Eine besondere Fähigkeit sozialer Systeme ist die Selbstorganisation. Sie ist die Bezeichnung für selbst erhaltende Systemveränderung, die allein durch die Systemelemente vollzogen wird. Bei einem stabilen System wird keine Veränderung von Nöten sein. Ziele und Prozesse sind stimmig. Wenn der Tabellenplatz Ihres Fußballvereins den gesetzten Erwartungen entspricht, werden die Systemkomponenten Vorstand, Trainer, Mannschaft und Spieler genauso weitermachen wie bisher. Ähnliches gilt für eine Firma. Kritisch wird es, wenn das System in seiner Stabilität gestört wird, wenn der Verein auf einmal jedes Spiel verliert und der Abstieg droht oder wenn Ihre Firma Verluste macht und in den Konkurs treibt. Von außen in das System hineingreifen und Komponenten austauschen (Spieler, Trainer, Manager) mag im konkreten Fall nützlich sein, ignoriert aber, dass der Eingreifende vielleicht selbst das Problem ist. Erfolgreiche Veränderung ist nur durch die Systemkomponenten durch Selbstorganisation möglich. Wie funktioniert das konkret? - Einer der größten Instabilitäten, in die Menschen geraten können, ist der Krieg. Wie ein soziales System darin durch Selbstorganisation überleben und sogar gewinnen kann, das zeigt der Verlauf der Seeschlacht bei Abukir.
Die französische Flotte hatte den Auftrag, die Landung einer französischen Armee in Ägypten zu schützen, mit der Napoleon beabsichtigte, Großbritanniens Einfluss in Indien nachhaltig zu stören. Admiral Nelson und seine Flotte hatten den Auftrag, die Landung zu verhindern, auf jeden Fall aber die französische Flotte zu stellen und zu vernichten. Als Nelsons Flottenverband sich der Bucht von Abukir näherte, war die Landung bereits geschehen. Aber die französische Flotte lag noch in der Bucht vor Anker. Nelsons Befehl an seine Kapitäne lautete: Wenn wir sie treffen, greifen wir sie ohne Zögern an. Er wollte den Franzosen keine Zeit für Verteidigungsmaßnahmen geben. Alle 11 britischen Linienkriegsschiffe fuhren unter vollen Segeln in Linie hintereinander den Angriff auf die französische Flotte, deren 13 Schiffe in einer Linie Bug/Heck über 2,5 Kilometer quer in der Bucht geankert hatte. Zur Landseite durch Untiefen geschützt hatten die Franzosen alle ihre Kanonen für ein Gefecht zur Seeseite ausgerichtet. Als das erste britische Kriegsschiff, die HMS Goliath, in die Bucht von Abukir einbog, sah sein Kapitän Foley sofort die Möglichkeit, von der Landseite her die französischen Schiffe anzugreifen. Trotz der Untiefen traute er sich, seiner Besatzung und den Nachkommenden einen solchen riskanten Angriff zu. Die Kapitäne der Schiffe hinter ihm folgten. Als Nelson mit seinem Flaggschiff HMS Vanguard um die Ecke bog, erkannte er sofort die Absicht seiner Kapitäne und schwenkte sein Schiff auf eine seeseitige Angriffsroute. Die nachfolgenden Schiffe folgten ihm. Die französische Flotte wurde in ein mörderisches Kreuzfeuer genommen, was in einer katastrophalen Niederlage für die Franzosen endete. (Quelle: Wikipedia) Die Royal Navy hatte bewiesen, dass sie das Handwerk der Seekriegsführung beherrschte wie keine andere Nation. Ausschlaggebend für den Sieg war jedoch etwas anderes.
Admiral Nelson, seine Kapitäne und deren Mannschaften waren eine „Band of Brothers“. Sie segelten mit voller Kraft in die Bucht von Abukir, ohne zu wissen, was sie erwartete. Das Führungsschiff mit Nelson segelte irgendwo weiter hinten, als das erste Schiff der britischen Linie in die Bucht einbog. Sein Kapitän traf die erste und wichtigste Führungsentscheidung. In der anschließenden Schlacht wechselte das Führungssystem der britischen Flotte von der Hierarchie zur Heterarchie. Die Führung des Kampfes war nicht mehr beim Chef, Nelson, sondern bei seinen Kapitänen. Jeder einzelne traf in jedem Moment die Entscheidungen, die er für das Ganze als richtig ansah. Das Verhalten eines einzelnen Schiffes steuerte das Verhalten der anderen oder systemisch ausgedrückt: Die Systemkomponenten betrieben Selbstorganisation. Entscheidend für den Erfolg war nicht nur die Professionalität des einzelnen, sondern vor allem, wie sie als Menschen waren - im Umgang miteinander, mit ihren Vorgesetzten und mit ihren Soldaten und Seeleuten. Nelson hat es ihnen vorgelebt. Sein Sekretär beschrieb seinen Chef so: „Er ist die größte Persönlichkeit, die ich je getroffen habe. Er ist wahrlich ein großer Mann, und er ist genauso gütig wie er groß ist.“ – (Norman Dixon, „On the Psychology of Military Incompetence“)
Ehrlichkeit, Bescheidenheit, Vertrauen, Integrität und Fürsorglichkeit sind die verbindenden Eigenschaften von Menschen in einer Gemeinschaft. Es ist die Aufgabe von guten Führungsmenschen, sie zusammenzubringen und zum Leben zu erwecken. Ein gutes Team vermag die höchsten Berge zu erklimmen, eine Gemeinschaft ist in der Lage, sie zu versetzen, im Krieg, im Sport, in der Wirtschaft, in der Politik und überhaupt.